Werbevoodoo
1924 bildete die bayerische Polizei hier ihren Nachwuchs aus, aber der Spitzname war geblieben. Invalidenheim.
Wondrak schaute kurz auf die Uhr, sagte »Ah, wir haben noch ein bisserl Zeit«, und streifte mit Andreas durch die Gänge. Die Zisterzienser hatten für die Unsterblichkeit gebaut. Dieses Gebäude war der Stein gewordene Beweis dafür. Der Boden: Stein. Die Wände: Stein. Die Türstöcke: Stein. Ein Wunder, dass die Türblätter nicht aus Stein waren. Aber natürlich: Eiche. Das Holz, das dem Stein am nächsten kommt. Ein beklemmendes Gefühl von Leere und Tod hing in den Gängen, die Wondrak und Hofer mit ihrem Plauderton füllten.
Dann klingelte die Glocke und die Polizeischüler strömten aus ihren Klassen. Wondrak sagte zu Andreas: »Entschuldige mich bitte einen Moment«, und ging auf eine junge Frau zu, die im Gehen einen Block in ihre Mappe steckte.
»Hallo, Frau …«
»Inninger. Sandra Inninger«, half sie dem in letzter Zeit ein wenig zur Zerstreutheit neigenden Kriminalhauptkommissar über die Gedächtnislücke hinweg.
»Ja richtig, Frau Inninger. Haben Sie kurz Zeit? Ich hab’ da eine Frage.«
»Fragen Sie, Herr Kommissar!«
Ohne seinen Kaffee wirkte Wondrak immer ein bisschen hilflos beim Gesprächsanfang. Er räusperte sich, dann hatte er den Faden wieder gefunden: »Ich bin durchaus der Ansicht, dass die Frage, warum Sie der vermissten Clara Braunstätter wie aus dem Gesicht geschnitten sind, eine große Frage ist. Und selbst wenn es nur eine kleine Frage wäre, würde ich mich über eine kleine Antwort freuen. Ich wollte das neulich nicht vor der ganzen Klasse erörtern. Ich dachte, Sie werden Ihre Gründe haben, warum Sie ausweichen.«
Sandra Inninger überlegte noch, ob sie etwas darauf erwidern sollte.
Also fuhr Wondrak fort. »Ich möchte Ihnen etwas sagen, das Sie bitte für sich behalten. Denn noch sind Sie ja keine Polizistin und streng genommen darf ich Privatleuten über diesen Fall nichts erzählen. Aber ich glaube, dass Sie über die Frau mehr wissen, als Sie sagen. Behalten Sie es für sich?«
Die junge Frau nickte, man hätte das als doppelte Zustimmung deuten können.
»Wir sind sicher, dass sie entführt wurde.«
Keine Reaktion.
Wondrak bohrte weiter. »Wie gehen denn eigentlich Ihre Kollegen in der Klasse mit der Ähnlichkeit um? Das ist doch ein gefundenes Fressen für Nachwuchskriminalisten. Die müssen Sie doch gelöchert haben?«
»Nein, eigentlich gar nicht.« Sandra hatte für ihr jugendliches Alter eine erstaunlich reife Stimme. Samtig und tief. Aber mehr als diese drei Worte bekam Wondrak nicht zu hören.
»Also entweder sind Ihre Mitschüler überaus diskret oder überaus bescheuert. Na ja, wieder ein Jahrgang für die Tonne, kann man nichts machen. So, ich muss weiter, hier haben Sie zur Sicherheit noch meine Telefonnummer, rufen Sie mich an, wenn Ihnen irgendetwas dazu einfällt. Die Frau schwebt mit großer Wahrscheinlichkeit in Lebensgefahr. Falls sie nicht schon tot ist.«
»Wer war das?«, fragte Andreas, als Sandra den Gang verlassen hatte. »Deine Freundin?«
»Ach was, eine Schülerin. Aber die ist verstockt. Warum, weiß ich noch nicht genau. Ich hab’ eine Ahnung. Aber nix Genaues woas ma ned.«
»Hübsch«, meinte Andreas, »sind alle künftigen Kommissarinnen so attraktiv?«
»Die guten schon. Die Schiachen sind zu sehr mit sich selbst beschäftigt, die schaffen es nicht, selbst wenn sie g’scheit sind. Aber die g’scheiten Schönen, die so viel Selbstbewusstsein haben, dass sie über ihr Aussehen gar nicht nachdenken müssen, die werden gut.«
»Das kann ich mir vorstellen. Dem Mädel könnte ich auch keinen Wunsch abschlagen.«
»Na, ich weiß net. Die hat doch gar keine Wünsche. Sagt nix. Will nix. Wird nix. Komm, ich muss raus hier, wir setzen uns rüber zum Fürstenfelder, ich brauch’ frische Luft.«
Sie schlenderten quer über den großen Klosterplatz und da stellte sich dieses Gefühl ein, für das Wondrak kein anderes Wort als Stolz hatte. Die mächtige Barockkirche auf der linken Seite. Die zeitlos modernen Anbauten aus Glas und Stahl vor ihnen. Ein großzügiger Platz, der das Versprechen von Möglichkeit und Freiheit verströmte. Noch vor zehn Jahren war Fürstenfeld ein von Gott vergessener Ort, außerhalb der Wahrnehmung der arroganten Münchener in ihrer vollkommen kernsanierten Stadt. In Fürstenfeldbruck wohnte man nicht, weil man wollte, sondern weil man musste. Das Kloster seit 200 Jahren
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