Werke
bloßen Facta, die Umstände der Zeit und des Ortes, oder sind es die Charaktere der Personen, durch welche die Facta wirklich geworden, warum der Dichter lieber diese als eine andere Begebenheit wählet? Wenn es die Charaktere sind, so ist die Frage gleich entschieden, wie weit der Dichter von der historischen Wahrheit abgehen könne? In allem, was die Charaktere nicht betrifft, so weit er will. Nur die Charaktere sind ihm heilig; diese zu verstärken, diese in ihrem besten Lichte zu zeigen, ist alles, was er von dem Seinigen dabei hinzutun darf; die geringste wesentliche Veränderung würde die Ursache aufheben, warum sie diese und nicht andere Namen führen; und nichts ist anstößiger, als wovon wir uns keine Ursache geben können.
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Vier und zwanzigstes Stück
Den 21sten Julius, 1767
Wenn der Charakter der Elisabeth des Corneille das poetische Ideal von dem wahren Charakter ist, den die Geschichte der Königin dieses Namens beilegt; wenn wir in ihr die Unentschlüssigkeit, die Widersprüche, die Beängstigung, die Reue, die Verzweiflung, in die ein stolzes und zärtliches Herz, wie das Herz der Elisabeth, ich will nicht sagen, bei diesen und jenen Umständen wirklich verfallen ist, sondern auch nur verfallen zu können vermuten lassen, mit wahren Farben geschildert finden: so hat der Dichter alles getan, was ihm als Dichter zu tun obliegt. Sein Werk, mit der Chronologie in der Hand, untersuchen; ihn vor den Richterstuhl der Geschichte führen, um ihn da jedes Datum, jede beiläufige Erwähnung, auch wohl solcher Personen, über welche die Geschichte selbst in Zweifel ist, mit Zeugnissen belegen zu lassen: heißt ihn und seinen Beruf verkennen, heißt von dem, dem man diese Verkennung nicht zutrauen kann, mit einem Worte, chicanieren.
Zwar bei dem Herrn von Voltaire könnte es leicht weder Verkennung noch Chicane sein. Denn Voltaire ist selbst ein tragischer Dichter, und ohnstreitig ein weit größerer, als der jüngere Corneille. Es wäre denn, daß man ein Meister in einer Kunst sein, und doch falsche Begriffe von der Kunst haben könnte. Und was die Chicane anbelangt, die ist, wie die ganze Welt weiß, sein Werk nun gar nicht. Was ihr in seinen Schriften hier und da ähnlich sieht, ist nichts als Laune; aus bloßer Laune spielt er dann und wann in der Poetik den Historikus, in der Historie den Philosophen, und in der Philosophie den witzigen Kopf.
Sollte er umsonst wissen, daß Elisabeth acht und sechzig Jahr alt war, als sie den Grafen köpfen ließ? Im acht und sechzigsten Jahre noch verliebt, noch eifersüchtig! Die große Nase der Elisabeth dazu genommen, was für lustige Einfälle muß das geben! Freilich stehen diese lustigen Einfälle in dem Kommentare über eine Tragödie; also da, wo sie nicht hingehören. Der Dichter hätte Recht zu seinem Kommentator zu sagen: »Mein Herr Notenmacher, diese Schwänke gehören in Eure allgemeine Geschichte, nicht unter meinen Text. Denn es ist falsch, daß meine Elisabeth acht und sechzig Jahr alt ist. Weiset mir doch, wo ich das sage. Was ist in meinem Stücke, das Euch hinderte, sie nicht ungefähr mit dem Essex von gleichem Alter anzunehmen? Ihr sagt: Sie war aber nicht von gleichem Alter: Welche Sie? Eure Elisabeth im Rapin de Thoyras; das kann sein. Aber warum habt Ihr den Rapin de Thoyras gelesen? Warum seid Ihr so gelehrt? Warum vermengt Ihr diese Elisabeth mit meiner? Glaubt Ihr im Ernst, daß die Erinnerung bei dem und jenem Zuschauer, der den Rapin de Thoyras auch einmal gelesen hat, lebhafter sein werde, als der sinnliche Eindruck, den eine wohlgebildete Aktrice in ihren besten Jahren auf ihn macht? Er sieht ja meine Elisabeth; und seine eigene Augen überzeugen ihn, daß es nicht Eure acht und sechzigjährige Elisabeth ist. Oder wird er dem Rapin de Thoyras mehr glauben, als seinen eignen Augen?« –
So ungefähr könnte sich auch der Dichter über die Rolle des Essex erklären. »Euer Essex im Rapin de Thoyras, könnte er sagen, ist nur der Embryo von dem meinigen. Was sich jener zu sein dünkte, ist meiner wirklich. Was jener, unter glücklichern Umständen, für die Königin vielleicht getan hätte, hat meiner getan. Ihr hört ja, daß es ihm die Königin selbst zugesteht; wollt Ihr meiner Königin nicht eben so viel glauben, als dem Rapin de Thoyras? Mein Essex ist ein verdienter und großer, aber stolzer und unbiegsamer Mann. Eurer war in der Tat weder so groß, noch so unbiegsam: desto schlimmer für ihn. Genug für mich, daß er doch
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