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Werke von Fjodor Dostojewski (Illustrierte) (German Edition)

Werke von Fjodor Dostojewski (Illustrierte) (German Edition)

Titel: Werke von Fjodor Dostojewski (Illustrierte) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fjodor Dostojewski
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Anschein hatte. Aber gleichzeitig war sie naiver, als man nach ihrem Lebensalter hätte erwarten sollen: manchmal begegnete es ihr, daß sie eine völlige Dummheit fragte, und ein andermal wieder trat in ihren Antworten der größte Scharfblick und das feinste Verständnis zutage.
    Als ich endlich ebenfalls wieder imstande war, geistig zu arbeiten, examinierte mich Madame Léotard über meine Kenntnisse und Fertigkeiten, und da sie fand, daß ich sehr gut las, aber sehr schlecht schrieb, so erklärte sie es für unbedingt notwendig, daß ich sofort mit dem Französischen anfinge.
    Ich widerstrebte nicht, und eines Morgens setzte ich mich neben Katja an den Unterrichtstisch. Es traf sich, daß Katja gerade diesmal ungewöhnlich stumpf und äußerst zerstreut war, so daß Madame Léotard sie gar nicht wiedererkannte. Ich dagegen hatte an einem einzigen Vormittag schon fast die ganze französische Fibel bewältigt, da ich lebhaft wünschte, Madame Léotard durch meinen Fleiß zufriedenzustellen. Am Ende der Unterrichtszeit war Madame Léotard auf Katja ganz böse.
    „Sehen Sie einmal diese hier an!“ sagte sie, auf mich hinweisend. „Das ist ein krankes Kind; sie nimmt zum erstenmal am Unterrichte teil und hat doch zehnmal soviel geleistet wie Sie. Schämen Sie sich denn nicht?“
    „Weiß sie denn mehr als ich?“ fragte Katja erstaunt. „Sie lernt ja noch die Fibel!“
    „Wieviel Zeit haben Sie gebraucht, um die Fibel zu lernen?“
    „Drei Lektionen.“
    „Und sie nur eine. Also begreift sie dreimal so schnell wie Sie und wird Sie sehr bald überholen. Nicht wahr?“
    Katja dachte einen Augenblick nach und wurde auf einmal feuerrot, da sie einsah, daß Madame Léotards Bemerkung richtig war. Vor Scham zu erröten und zu erglühen, das war immer ihr erstes, sei es aus Ärger, wenn ihr etwas nicht gelang, sei es aus Stolz, wenn sie für eine Unart gescholten wurde, kurz, fast in allen solchen Fällen. Diesmal traten ihr beinah die Tränen in die Augen; aber sie schwieg und sah mich nur so an, als ob sie mich mit ihrem Blicke versengen wollte. Ich merkte sofort wie es stand. Das arme Kind war im höchsten Grade stolz und ehrgeizig. Als wir von Madame Léotard weggingen, wollte ich ein Gespräch anknüpfen, um möglichst schnell ihren Ärger zu verscheuchen und ihr klarzumachen, daß ich an den Bemerkungen der Französin ganz unschuldig sei; aber Katja schwieg, als ob sie gar nicht hörte, was ich sagte.
    Eine Stunde darauf kam sie in das Zimmer, wo ich mit einem Buche saß, dabei immer an Katja dachte und bestürzt und erschrocken darüber war, daß sie wieder nicht mit mir reden wollte. Sie blickte mich von der Seite an, setzte sich nach ihrer Gewohnheit auf das Sofa und verwandte eine halbe Stunde lang keinen Blick von mir. Endlich konnte ich das nicht mehr ertragen und sah sie fragend an.
    „Kannst du tanzen?“ fragte Katja.
    „Nein, das kann ich nicht.“
    „Aber ich kann es.“
    Schweigen.
    „Aber spielst du Klavier?“
    „Auch das nicht.“
    „Aber ich spiele. Das ist sehr schwer zu lernen.“
    Ich schwieg.
    „Madame Léotard sagt, du wärest klüger als ich.“
    „Madame Léotard war böse auf dich“, erwiderte ich.
    „Wird Papa vielleicht auch böse sein?“
    „Das weiß ich nicht“, antwortete ich.
    Wieder Schweigen. Die Prinzessin schlug ungeduldig mit ihrem Füßchen auf den Boden.
    „Du wirst dich also wohl über mich lustig machen, weil du besser begreifst als ich?“ fragte sie schließlich, da sie ihren Ärger nicht mehr unterdrücken konnte.
    „O nein, nein!“ rief ich und sprang auf, um zu ihr hinzueilen und sie zu umarmen.
    „Schämen Sie sich denn gar nicht, Prinzessin, so etwas zu denken und so etwas zu fragen?“ hörten wir auf einmal Madame Léotard sagen, die uns schon seit fünf Minuten beobachtet und unser Gespräch mit angehört hatte. „Schämen Sie sich! Sie beneiden da ein armes Kind und prahlen vor ihm damit, daß Sie tanzen und Klavier spielen können. Das ist nicht hübsch von Ihnen; ich werde alles dem Fürsten erzählen.“
    Die Wangen der Prinzessin überzogen sich mit dunkler Glut.
    „Das ist eine häßliche Gesinnung. Sie haben sie durch Ihre Fragen gekränkt. Netotschkas Eltern waren arme Leute und konnten ihr keinen Lehrer halten; sie hat aus sich selbst gelernt, weil sie ein gutes, braves Herz hat. Sie sollten sie lieb haben; statt dessen möchten Sie sich mit ihr streiten. Schämen Sie sich, schämen Sie sich! Sie ist ja doch eine Waise. Sie hat

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