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Werke von Fjodor Dostojewski (Illustrierte) (German Edition)

Werke von Fjodor Dostojewski (Illustrierte) (German Edition)

Titel: Werke von Fjodor Dostojewski (Illustrierte) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fjodor Dostojewski
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Eifers getreten. Sogar meine Begabung, die bei allen, welche mir lieb und wert waren, ein solches Entzücken erregte, machte mir jetzt keine Freude mehr, und ich vernachlässigte sie mitleidslos. Für nichts interessierte ich mich, und dies ging so weit, daß ich sogar Alexandra Michailowna gegenüber eine kalte Gleichgültigkeit empfand, wegen deren ich mir selbst Vorwürfe machte, da ich nicht umhin konnte, mir ihrer bewußt zu werden. Meine Apathie wurde von einer grundlosen Traurigkeit und plötzlichem Weinen unterbrochen. Ich suchte die Einsamkeit. In diesem eigentümlichen Zustande befand ich mich, als ein seltsames Ereignis meine Seele bis in ihren tiefsten Grund erschütterte und diese Windstille in einen wahren Sturm verwandelte. Mein Herz empfing eine schwere Wunde. Das trug sich folgendermaßen zu.

KAPITEL VII
     
     
    Ich trat in die Bibliothek (dieser Augenblick wird mir lebenslänglich unvergeßlich sein) und ergriff den Walter Scottschen Roman „St. Ronans Brunnen“, den einzigen, den ich noch nicht gelesen hatte. Ich erinnere mich, daß ich ohne greifbaren Grund ein peinigendes Angstgefühl hatte, gewissermaßen die Vorahnung eines Unglücks. Das Weinen war mir nahe. Das Zimmer war hell erleuchtet durch die letzten schrägen Strahlen der untergehenden Sonne, die in Fülle durch die hohen Fenster hereinströmten und sich auf das glänzende Parkett des Fußbodens ergossen; es war still; ringsumher in den anstoßenden Zimmern war keine Menschenseele. Pjotr Alexandrowitsch war nicht zu Hause; Alexandra Michailowna war krank und lag im Bett. Ich fing wirklich an zu weinen, schlug den zweiten Teil des Romans auf und blätterte zwecklos darin umher, indem ich versuchte, in den abgerissenen Sätzen, die mir flüchtig vor Augen kamen, irgendwelchen Sinn zu finden. Ich befragte gewissermaßen das Orakel, wie das manche Leute dadurch zu tun pflegen, daß sie ein Buch aufs Geratewohl aufschlagen. Es gibt Augenblicke, wo alle geistigen und seelischen Kräfte krankhaft angespannt sind und plötzlich in hellem Bewußtsein aufflammen, und wo dann die erschütterte Seele von einem prophetischen Traumgebilde, von einer Ahnung der Zukunft, ja von einem Vorgeschmack derselben gequält wird. Das ganze Ich möchte so gern leben, begehrt so sehr zu leben, und von heißer, blinder Hoffnung erfüllt, fordert das Herz gleichsam die Zukunft heraus; es möchte einen Blick in die geheimnisvolle, unbekannte Zukunft tun, mag diese auch Stürme und Ungewitter mit sich bringen, wenn sie nur Leben einschließt, wahres Leben. Ich durchlebte damals einen solchen Augenblick.
    Ich erinnere mich, daß ich gerade das Buch zugemacht hatte, um es dann aufs Geratewohl zu öffnen und die Seite, die ich dann treffen würde, als Zukunftsorakel zu lesen. Aber als ich es wieder aufschlug, erblickte ich ein beschriebenes Blatt Briefpapier, das vierfach zusammengefaltet und an den Kniffstellen so flach gedrückt war, als sei es schon vor mehreren Jahren da in das Buch gelegt und dann darin vergessen worden. Ich betrachtete meinen Fund mit der größten Neugier. Es war ein Brief ohne Adresse, unterzeichnet mit den beiden Anfangsbuchstaben S.O. Mein Interesse verdoppelte sich; ich schlug das beinah zusammenklebende Papier auseinander, das infolge des langen Liegens zwischen den Blättern des Buches auf diesen in seiner ganzen Ausdehnung eine helle Stelle zurückgelassen hatte. Die Falten des Briefes waren zerscheuert und abgenutzt: es war ersichtlich, daß er früher oft gelesen und wie ein kostbarer Schatz gehütet worden war. Die Tinte war bläulich geworden und verblaßt; der Brief mußte vor sehr, sehr langer Zeit geschrieben sein! Einige Worte fielen mir zufällig in die Augen, und mein Herz begann vor Spannung heftig zu klopfen. Aufgeregt drehte ich den Brief in den Händen hin und her, wie wenn ich den Augenblick des Durchlesens absichtlich hinausschöbe. Zufällig brachte ich ihn näher ans Licht: ja! Tränentropfen waren auf diesen Zeilen getrocknet; Flecke davon waren auf dem Papier zurückgeblieben; hier und da waren ganze Buchstaben von den Tränen verwischt. Wer hatte diese Tränen vergossen? Endlich las ich, halbtot vor Spannung, die Hälfte der ersten Seite, und ein Schrei des Erstaunens entrang sich meiner Brust. Ich stellte das Buch wieder an seinen Platz, schloß den Schrank zu, verbarg den Brief unter meinem Halstuche, lief auf mein Zimmer, schloß mich ein und begann, den Brief nochmals von Anfang an durchzulesen. Aber mein Herz

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