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Werke von Fjodor Dostojewski (Illustrierte) (German Edition)

Werke von Fjodor Dostojewski (Illustrierte) (German Edition)

Titel: Werke von Fjodor Dostojewski (Illustrierte) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fjodor Dostojewski
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ging in die Bibliothek, schloß einen Schrank auf und begann unter den Büchern zu suchen, um eines auszuwählen, das ich Alexandra Michailowna vorlesen könnte. Ich wollte sie von ihren finsteren Gedanken ablenken und ihr daher etwas Leichtes, Heiteres wählen ... Ich war sehr zerstreut und suchte lange. Die Dunkelheit nahm zu, und mit ihr wuchs auch mein Verdruß. Ich bekam wieder jenes verhängnisvolle Buch in die Hände, und es schlug auf derselben Seite auf; auch jetzt sah ich auf ihr die Spuren des Briefes, der seitdem nicht von meiner Brust gekommen war. Mit der Entdeckung dieses Geheimnisses hatte ein Abschnitt meines Lebens jäh sein Ende erreicht und ein neuer hatte begonnen; mir war, als ob etwas Kaltes, Unbekanntes, Geheimnisvolles, Unerfreuliches mich anwehte und mich schon jetzt aus der Ferne finster bedrohte ... „Was wird aus mir werden?“ dachte ich. „Der Winkel, in dem mir so warm und behaglich war, wird öde. Das reine, edle Wesen, das meine Jugend behütet hat, verläßt mich. Was wird mir die Zukunft bringen?“ Ich stand ganz versunken da: Ich dachte an meine Vergangenheit, die jetzt meinem Herzen so teuer war, und suchte mit meinem Blicke die unbekannte, mich bedrohende Zukunft zu durchdringen ... Ich erinnere mich an diesen Augenblick, wie wenn ich ihn jetzt von neuem durchlebte: so stark hat er sich meinem Gedächtnisse eingeprägt.
    Ich hielt den Brief und das aufgeschlagene Buch in der Hand; mein Gesicht war feucht von Tränen. Auf einmal fuhr ich erschrocken zusammen; neben mir hörte ich eine mir bekannte Stimme. Gleichzeitig fühlte ich, daß mir der Brief aus der Hand gerissen wurde. Ich schrie auf und blickte mich um: vor mir stand Pjotr Alexandrowitsch. Er ergriff mich am Arme und hielt mich gewaltsam an meinem Platze fest; mit der rechten Hand hielt er den Brief nach dem Lichte hin und bemühte sich, die ersten Zeilen zu entziffern ... Ich schrie auf; ich wollte lieber sterben, als diesen Brief in seinen Händen lassen. An seinem triumphierenden Lächeln sah ich, daß es ihm gelungen war, die ersten Zeilen zu lesen. Mir schwindelte der Kopf ... Einen Augenblick darauf stürzte ich wie von Sinnen zu ihm hin und riß ihm den Brief aus der Hand. Alles dies begab sich so schnell, daß ich selbst noch nicht begriff, wie der Brief wieder in meinen Besitz gekommen war. Aber als ich bemerkte, daß er ihn mir von neuem aus den Händen reißen wollte, verbarg ich ihn eilig an meiner Brust und trat drei Schritte zurück.
    Etwa eine halbe Minute lang blickten wir einander schweigend an. Ich zitterte noch vor Schreck; er war blaß, und seine vor Zorn bläulich gewordenen Lippen bebten. Er war der erste, der das Schweigen brach.
    „Machen wir ein Ende!“ sagte er mit einer Stimme, die vor Erregung matt klang. „Sie werden gewiß selbst nicht wollen, daß ich Gewalt anwende; geben Sie den Brief freiwillig her!“
    Erst jetzt kam ich recht zur Besinnung, und das Gefühl der Kränkung, der Scham und der Empörung über eine so rohe Gewalttat benahm mir den Atem. Heiße Tränen liefen über meine glühenden Wangen. Ich zitterte am ganzen Leibe vor Aufregung und war eine Zeitlang nicht imstande, ein Wort herauszubringen.
    „Haben Sie gehört?“ sagte er, indem er zwei Schritte näher an mich herantrat.
    „Lassen Sie mich, lassen Sie mich!“ rief ich und wich von ihm zurück. „Sie haben gemein und unwürdig gehandelt. Sie haben sich vergessen! ... Lassen Sie mich vorbei!...“
    „Wie? Was soll das vorstellen? Sie wagen noch, einen solchen Ton anzunehmen ... nachdem Sie ... Geben Sie her, sage ich Ihnen!“
    Er trat noch einmal auf mich zu; aber als er mich ansah, erblickte er in meinen Augen eine solche Entschlossenheit, daß er innehielt, wie um zu überlegen.
    „Gut!“ sagte er schließlich in trockenem Tone, als ob er zu einem Entschlusse gelangt wäre; aber er hatte immer noch Mühe, seine Erregung niederzuhalten. „Das soll später an die Reihe kommen; aber zuerst...“
    Hier blickte er um sich.
    „Wie kommen Sie ... wer hat Sie in die Bibliothek gelassen? Warum steht dieser Schrank offen? Wo haben Sie den Schlüssel her?“
    „Ich werde Ihnen darauf keine Antwort geben“, erwiderte ich. „Ich kann nicht mit Ihnen reden. Lassen Sie mich hinaus, lassen Sie mich hinaus!“
    Ich ging auf die Tür zu.
    „Erlauben Sie!“ sagte er, indem er mich am Arme festhielt. „Sie kommen so nicht davon!“
    Schweigend riß ich meinen Arm aus seinem Griffe los und machte von neuem eine

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