Werke von Fjodor Dostojewski (Illustrierte) (German Edition)
letzten Worten hörte er eine Herausforderung heraus, doch er nahm sie nicht an.
»Ich habe Sie heute zu mir bitten lassen, damit Sie mir versprechen, ihn selbst zu überreden. Oder wäre es Ihrer Ansicht nach unehrenhaft zu fliehen, nicht heldenmütig – oder wie drückt man sich da aus? Nicht christlich, wie?« fügte Katja noch herausfordernder hinzu.
»Nein, das ist nicht der Fall. Ich werde ihm alles sagen ...«, murmelte Aljoscha. »Er läßt Sie bitten, heute zu ihm zu kommen«, fügte er plötzlich unvermittelt hinzu, wobei er ihr fest in die Augen sah. Sie zuckte zusammen und wich auf dem Sofa jäh vor ihm zurück.
»Mich ... Ist denn das möglich?« stammelte sie und wurde blaß.
»Das ist möglich, und das ist Ihre Pflicht!« sagte Aljoscha energisch und plötzlich ganz lebhaft. »Er braucht Sie sehr, gerade jetzt. Ich würde nicht davon anfangen und Sie nicht vor der Zeit quälen, wenn es nicht notwendig wäre. Er ist krank, er ist wie geistesgestört, er verlangt immerzu nach Ihnen. Er bittet Sie nicht zur Versöhnung zu sich. Es genügt, wenn Sie nur hinkommen und sich auf der Schwelle zeigen. Mit ihm ist seit jenem Tag vieles vorgegangen. Er sieht ein, wie sehr er sich gegen Sie vergangen hat. Nicht Ihre Verzeihung ist das, was er möchte. ›Mir kann nicht verziehen werden‹, sagt er selbst. Er bittet Sie nur, sich auf der Schwelle zu zeigen.
»Sie haben mich so plötzlich ...«, stammelte Katja. »Ich habe alle diese Tage geahnt, daß Sie mit diesem Wunsch kommen würden ... Ich habe es geradezu gewußt, daß er mich würde rufen lassen! Doch es ist unmöglich!«
»Mag es unmöglich sein – aber tun Sie es! Bedenken Sie, daß er sich zum erstenmal tief ergriffen fühlt durch die Erkenntnis, wie sehr er Sie gekränkt hat, zum erstenmal in seinem Leben! Früher hat er das nie in diesem Umfang gesehen. Er sagt: ›Wenn sie sich weigert zu kommen, werde ich mein Leben lang unglücklich sein!‹ Hören Sie, einer, der zu zwanzig Jahren Zwangsarbeit verurteilt ist, möchte noch glücklich sein – ist das nicht bemitleidenswert? Bedenken Sie, Sie werden einen unschuldig Leidenden besuchen!« sagte Aljoscha heftig und herausfordernd. »Seine Hände sind rein, es klebt kein Blut daran! Besuchen Sie ihn um seines unermeßlichen künftigen Leidens willen! Kommen Sie zu ihm, geben Sie ihm das Geleit in die Finsternis, treten Sie auf die Schwelle, weiter nichts ... Es ist Ihre Pflicht, Ihre Pflicht, das zu tun!« schloß Aljoscha, das Wort »Pflicht« besonders stark betonend.
»Meine Pflicht schon ... Aber ... Ich kann nicht«, stöhnte Katja. »Er wird mich ansehen ... Ich kann nicht.«
»Ihre Augen müssen seinen begegnen. Wie wollen Sie Ihr ganzes Leben über leben, wenn Sie sich jetzt nicht dazu entschließen?«
»Lieber will ich mein Leben lang leiden.«
»Es ist Ihre Pflicht hinzugehen!« wiederholte Aljoscha mit unerbittlichem Nachdruck.
»Aber warum heute, warum jetzt gleich ... Ich kann doch den Kranken nicht allein lassen ...«
»Für einen Moment können Sie es, und es handelt sich ja nur um einen Moment. Wenn Sie nicht kommen, wird sich bei ihm heftiges Fieber zur Nacht einstellen. Ich sage doch nicht die Unwahrheit. Haben Sie Mitleid!«
»Haben Sie mit mir Mitleid!« erwiderte Katja mit bitterem Vorwurf und fing an zu weinen.
»Also Sie werden kommen!« sagte Aljoscha in festem Ton, als er ihre Tränen sah. »Ich werde hingehen und ihm sagen, daß Sie gleich kommen werden.«
»Nein, sagen Sie ihm das um keinen Preis!« rief Katja erschrocken. »Ich werde kommen, aber sagen Sie es ihm nicht vorher! Ich werde kommen, vielleicht aber nicht hineingehen ... Ich weiß es noch nicht ...«
Die Stimme versagte ihr, sie atmete nur mit Mühe. Aljoscha stand auf, um zu gehen.
»Und wenn ich dort jemandem begegne?« sagte sie auf einmal leise; sie war wieder ganz blaß geworden.
»Eben deshalb müssen Sie jetzt gleich gehen, damit Sie dort niemandem begegnen. Es wird niemand dasein, das sage ich Ihnen zuverlässig. Wir werden Sie erwarten« schloß er nachdrücklich und verließ das Zimmer.
2. Für einen Augenblick wird die Lüge zur Wahrheit
Er eilte in das Krankenhaus, wo Mitja jetzt lag. Am zweiten Tag nach der Verurteilung war er an einem Nervenfieber erkrankt, und man hatte ihn in die Gefangenenabteilung unseres städtischen Krankenhauses gebracht. Der Arzt Warwinski hatte dem kranken Mitja auf Bitten Aljoschas und vieler anderer (Frau Chochlakowa, Lisa u. a.) seinen Platz nicht
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