Werke von Fjodor Dostojewski (Illustrierte) (German Edition)
Tiefes Schweigen herrschte, als das Publikum wieder Platz genommen hatte. Ich erinnere mich, wie die Geschworenen in den Saal traten. Endlich! Ich werde die Fragen nicht Punkt für Punkt anführen; ich habe sie auch vergessen. Ich erinnere mich nur – wenn auch nicht im Wortlaut – an die erste und wichtigste Frage des Präsidenten, nämlich: »Hat er vorsätzlich gemordet, mit der Absicht zu rauben?« Alles war stumm. Der Obmann der Geschworenen, jener jüngste Beamte von allen, verkündete in die Stille des Saales laut und deutlich: »Jawohl, er ist schuldig!«
Und dann folgte zu allen Punkten immer dieselbe Antwort: »Schuldig«, und »Schuldig« – und zwar ohne alle mildernden Umstände! Das hatte niemand erwartet; daß zumindest mildernde Umstände zugebilligt würden, davon waren fast alle überzeugt gewesen. Die Totenstille im Saal hielt längere Zeit an; alle schienen buchstäblich zu Stein erstarrt: diejenigen, die eine Verurteilung, ebenso wie diejenigen, die einen Freispruch gewünscht hatten. Dann entstand ein furchtbares Durcheinander. Vom männlichen Publikum zeigten sich viele sehr zufrieden. Manche rieben sich sogar die Hände, ohne ihre Freude zu verbergen. Die Unzufriedenen waren wie niedergeschmettert, zuckten die Achseln, flüsterten untereinander, schienen sich noch immer nicht dreinfinden zu können. Aber mein Gott, was wurde aus unseren Damen! Ich dachte schon, sie würden eine Revolution veranstalten. Zuerst wollten sie ihren Ohren nicht trauen. Und auf einmal hörte man laute Ausrufe durch den ganzen Saal schallen: »Was soll denn das heißen? Was soll das heißen?« Sie sprangen von ihren Plätzen auf; vielleicht bildeten sie sich ein, das alles könnte sofort wiederaufgehoben und abgeändert werden. Plötzlich erhob sich Mitja und schrie herzzerreißend, wobei er die Hände ausstreckte. »Ich schwöre bei Gott und seinem Jüngsten Gericht, an dem Blut meines Vaters bin ich unschuldig! Katja, ich verzeihe dir! Brüder, Freunde, nehmt euch der anderen an!«
Er sprach nicht zu Ende, sondern brach in so lautes Schluchzen aus, daß man es im ganzen Saal hörte; seine Stimme hatte einen eigentümlich fremden, neuen, unerwarteten Klang – Gott weiß woher. Oben auf der Galerie, im hintersten Winkel, ertönte der durchdringende Schrei einer Frau: Es war Gruschenka. Sie hatte durch ihre flehentlichen Bitten jemand erweichen können und war noch vor dem Beginn der Plädoyers wieder in den Saal gelassen worden. Mitja wurde abgeführt. Die Urteilsverkündung wurde auf den nächsten Tag verschoben, das Publikum erhob sich in wildem Chaos. Ich wartete jedoch nicht länger und hörte auch nicht mehr zu. Ich habe nur einige Äußerungen behalten, die ich schon auf den Stufen vor dem Ausgang vernahm.
»Zwanzig Jahre Bergwerk dürften ihm sicher sein.«
»Mindestens.«
»Ja, unsere Bauern haben ihren Kopf für sich.«
»Und haben unseren Mitenka erledigt.«
Epilog
1. Pläne zu Mitjas Rettung
»Am fünften Tag nach der Gerichtsverhandlung, morgens, noch vor neun Uhr, kam Aljoscha zu Katerina Iwanowna, um mit ihr endgültig eine für sie beide wichtige Angelegenheit zu besprechen; außerdem hatte er noch einen Auftrag an sie. Sie saß und sprach mit ihm in demselben Zimmer, wo sie einstmals Gruschenka empfangen hatte; nebenan, in einem anderen Zimmer, lag Iwan Fjodorowitsch krank an Nervenfieber und besinnungslos. Daß Iwan Fjodorowitsch, der das Bewußtsein verloren hatte, zu ihr nach Hause gebracht werden sollte, hatte Katerina Iwanowna gleich nach der Szene vor Gericht angeordnet, ohne sich um das mit Sicherheit zu erwartende abfällige Gerede der Gesellschaft zu kümmern. Eine der beiden Verwandten, die bei ihr wohnten, war gleich nach der Szene vor Gericht nach Moskau gefahren; die andere war dageblieben. Aber auch wenn sie beide weggefahren wären, hätte Katerina Iwanowna ihren Entschluß nicht geändert und nicht aufgehört, den Kranken zu pflegen und Tag und Nacht bei ihm zu sitzen. Warwinski und Herzenstube behandelten ihn; der Moskauer Arzt war zurückgefahren, nachdem er abgelehnt hatte, eine Prognose über den möglichen Ausgang der Krankheit zu stellen. Die beiden Ärzte versuchten zwar, Katerina Iwanowna und Aljoscha Mut zu machen, doch es war klar, daß sie ihnen noch keine bestimmte Hoffnung geben konnten. Aljoscha besuchte seinen kranken Bruder zweimal am Tag. Diesmal aber hatte er eine besondere, unangenehme Sache vorzubringen, und er spürte im voraus, wie peinlich es
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