Werke von Fjodor Dostojewski (Illustrierte) (German Edition)
der Vernunft, Wissenschaft und Realismus am höchsten schätzte, begriff doch zu gleicher Zeit tiefer als alle anderen, daß Vernunft, Wissenschaft und Realismus allein – bloß einen Ameisenhaufen erschaffen können, nicht aber eine soziale »Harmonie«, in der es dem Menschen möglich wäre sich einzuleben. Er wußte, daß die Grundlage zu allem – sittliche Grundsätze sind. An die neuen sittlichen Grundlagen des Sozialismus (der übrigens bisher noch keine einzige neue aufgewiesen, sondern nur widerliche Entstellungen der Natur und des gesunden Verstandes hervorgebracht hat), glaubte Bjelinski bis zum Wahnsinn und ohne jede Reflexion; das war bei ihm nichts als eine einzige Ekstase. Doch als Sozialist mußte er natürlich als Erstes das Christentum niederwerfen, – er wußte, daß die Revolution unbedingt mit dem Atheismus zu beginnen hatte. Es galt für ihn also, zunächst die Religion niederzureißen, aus der die sittlichen Grundlagen der von ihm bekämpften Gesellschaft hervorgegangen waren. Familie, Eigentum, sittliche Verantwortlichkeit des Einzelnen – alles das wurde von ihm radikal verneint. (Ich bemerke hierzu, daß er gleichfalls ein guter Gatte und Vater war, ganz wie Herzen.) Zweifellos begriff er, daß er, indem er die sittliche Verantwortung der Persönlichkeit verneinte, eben damit auch ihre Freiheit verneinte; aber er glaubte mit seinem ganzen Wesen (viel blinder als Herzen, der, wenn ich nicht irre, zum Schluß zu zweifeln begann), daß der Sozialismus die Freiheit der Persönlichkeit nicht nur nicht zerstöre, sondern, im Gegenteil, diese Freiheit in noch nie dagewesener Großartigkeit wiederherstelle, jedoch auf einer neuen und bereits unerschütterlichen Grundlage.
Aber da gab es nun noch die strahlende Persönlichkeit Christi selbst, gegen die der Kampf am schwersten war. Die Lehre Christi mußte er als Sozialist unbedingt zerstören, sie eine falsche und unwissende Menschenliebe nennen, die von der heutigen Wissenschaft und den heutigen ökonomischen Grundlagen schon verurteilt sei; aber – immerhin – es blieb das lichte Bild des Gottmenschen, seine sittliche Unerreichbarkeit, seine Wunderbare und wunderwirkende Schönheit. Doch Bjelinski blieb in seiner ununterbrochenen, unerlöschlichen Ekstase selbst vor diesem unüberwindlichen Hindernis nicht stehen, wie Renan es noch tut, der in seinem von Unglauben erfüllten Buch »La vie de Jésus« dennoch sagt, daß Christus das Ideal der menschlichen Schönheit sei, eine unerreichbare Gestalt, deren Wiederholung auch in der Zukunft schon nicht mehr möglich wäre.
»Ja, wissen Sie auch,« rief Bjelinski damals an einem Abend mit seiner heiseren Stimme mir zu (er konnte manchmal eigentümlich kreischen, besonders wenn ihn irgend etwas sehr erregte), »wissen Sie auch, daß man dem Menschen nicht seine Sünden anrechnen und ihn mit Schulden und hingehaltenen Backen belasten darf, wenn die Gesellschaft so gemein eingerichtet ist, daß sie es dem Menschen unmöglich macht, keine Übeltaten zu begehen, wenn er ökonomisch zum Verbrechen geführt wird, und daß es sinnlos und grausam ist, vom Menschen etwas zu verlangen, was er schon auf Grund der Naturgesetze nicht erfüllen kann, selbst wenn er es wollte ...«
An diesem Abend waren wir nicht allein; einer seiner Freunde, den er überaus achtete und auf dessen Urteil er viel gab, war gleichfalls bei ihm; und außer diesem war noch ein ganz junger Schriftsteller zugegen, der erst später in der Literatur bekannt geworden ist.
»Wissen Sie, ich bin immer ordentlich gerührt, wenn ich ihn so ansehe,« unterbrach plötzlich Bjelinski seinen wütenden Ausbruch, indem er sich zu seinem Freunde wandte und dabei auf mich wies; »jedesmal, wenn ich so wie jetzt von Christus rede, verändert sich immer sein ganzes Gesicht, als wolle er gleich zu weinen anfangen ... Aber so glauben Sie mir doch, Sie naiver Mensch,« fiel er wieder über mich her, »so glauben Sie es doch, daß Ihr Christus, wenn er in unserer Zeit geboren wäre, sich als der unauffälligste und gewöhnlichste Mensch erweisen würde; er verschwände nur so angesichts der heutigen Wissenschaft und der heutigen Beweger der Menschheit.«
»N–n–nein, nicht doch!« bemerkte da Bjelinskis Freund. (Ich weiß noch, wir anderen saßen, er aber ging im Zimmer auf und ab.) »N–nein: wenn Christus jetzt erschiene, würde er sich der Bewegung anschließen und an ihre Spitze stellen.«
»Nun ja, nun ja,« stimmte Bjelinski plötzlich und mit
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