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Werke

Werke

Titel: Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Theodor Storm
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ich kniete neben ihr und wußte mir nicht zu helfen; denn, Nachbar, die Frauenzimmer haben nicht den Verstand, daß man ihnen damit beikommen könnte. Zum Glück klingelte jetzt die Haustür, und ihre Mutter mit einem Korb voll Brot und Kohl und Rüben trat herein; und so ließ ich die beiden und ging nach dem Römischen Kaiserhof und dort unten in das Gastzimmer. Aber mein Glas schmeckte mir nicht, denn immer sah ich das arme Kindergesicht in seiner Angst und Not.
    – – Sie hatte sich denn endlich doch der Mutter kundgetan, aber, Herr Nachbar, helfen konnten wir nicht; nur, wir wußten es denn nun – ein vaterlos Kind sollte geboren werden, von ihr, die ja fast selber noch ein Kind war.
    Herr du meines Lebens! Wie wurde die alte Tugendkreatur lebendig! Wie hat sie geschrien! Den Mund hab ich ihr verhalten müssen, daß nur die ganze Gasse nicht zusammenlief: sie wollte den Baron verklagen, von seinem Gelde wollte sie nichts; aber heiraten sollte er ihre Tochter, noch Frau Baronin sollte sie werden! Ja, das sollte sie!
    »Ja«, sagte ich, »Baronin! Aber wenn’s nun ein Posamentiergeselle oder ein Balbierer gewesen ist!«
    Da schrie sie noch schlimmer. Und freilich, später erfuhren wir wohl: es war richtig so ein feiner Maat, ein Wasserschößling aus großer Familie gewesen, von denen, die von Schulden leben und deren Geschäft ist, anderer Leute Kinder zu verderben. Der Herrgott weiß, wo er geblieben ist; von seinen Gütern ist er nicht zurückgekommen.
    Die Anna aber wurde immer stiller. Wenn die Mutter da war, besorgte diese den Laden, und sie saß im Hinterstübchen und nähte sich die Augen rot; war die Mutter aus dem Hause, so bediente das arme Kind die Käufer demütig und wie eine Sünderin, sprach nur, was nötig war, und ihre jungen Augen, die sonst so lustig in die Welt sahen, waren fast allzeit zu Boden geschlagen.
    Nur, wenn je zuweilen abends die Mutter auswärts war, kam sie die Treppe zu mir heraufgeschlichen. Dann pochte sie leise an die Tür: »Darf ich ein wenig bei dir sitzen, Ohm? Es ist so einsam unten.«
    Und ich rückte ihr einen Stuhl zum Tisch; ich selber las die Zeitung oder schrieb, wenn so was vorlag. Gesprochen wurde nicht viel; von dem, der ihre Jugend gebrochen hatte, hat sie nie ein Wort geredet; dagegen waren ihre Gedanken oft bei einem Toten. So sagte sie einmal und hielt ihre Nadel müßig in der Hand: »Ohm, ich war doch schon sechs Jahre, als mein Vater starb; aber, wenn ich an ihn denken will, ich kann mir sein Gesicht nicht mehr vorstellen das ist doch wohl keine Sünde.«
    »Nein, Kind«, erwiderte ich, »warum sollte das eine Sünde sein?«
    »Ja, er hat mich doch so liebgehabt; das fühl ich wohl noch immer, aber sein Gesicht, das kann ich nicht mehr sehen!«
    Es tat mir weh, Nachbar, als das arme Kind so sprach, ich weiß nicht mehr, weshalb; ihr Vater konnte auch sein schmuckes Gesicht nicht mehr gehabt haben, als er verunglückte. Da fiel mir ein, ich bewahrte ja noch ein paar Briefschaften von ihm aus seiner besten Zeit, aus Rio einen, den andern aus Hongkong, die waren so hell und jung geschrieben, als stünde er im Maiensonnenschein am Steuerrad und der Südwind wehte durch seine dunkeln Locken. Die holte ich aus meiner Schatulle und legte sie vor ihr hin: »Da, Anna, hast du deinen Vater; es war, by Jove, derzeit ein herrlicher Junge!«
    Ein heißes Rot flog über das blasse Gesicht, und ihre Augen strahlten für einen Augenblick. »Darf ich sie lesen?« rief sie, und da ich nickte: »Darf ich sie auch mit mir nach unten nehmen?«
    »Gern«, sagte ich, »wenn du sie hier nicht lesen willst.«
    Sie schüttelte den Kopf und sah mich mit ihren düsteren Augen bittend an; das hätte einen Stein erbarmen können. »So geh!« sagte ich.
    Da nahm sie die Briefe, raffte ihr Nähzeug zusammen, und ich hörte, wie sie draußen die Treppe hinabflog. Ich hörte die Stubentür im Unterhause öffnen und schließen; sie war wohl dort nicht mehr allein nun, denn die Toten – wer kann’s wissen, wenn eine Kinderstimme so ins Grab hinunterschreit.
    – – Es gingen wohl acht Tage hin, daß sie nicht zu mir kam; dann pochte eines Abends wieder ihre kleine Hand an meine Stubentür: »Darf ich hineinkommen, Ohm?«
    »Gewiß, mein Kind.«
    Dann schritt sie leise herein. »Da sind die Briefe wieder«, sagte sie beklommen ; »ich danke dir tausendmal.«
    »Willst du sie nicht behalten?« frug ich.
    »Darf ich?« rief sie und bückte sich über mich und küßte mich und drückte

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