Werke
Laßschen Chronik seiner Vaterstadt oder in des alten pastor primarius Melchior Krafftens städtischer zweihundertjähriger Kirchen- und Schulhistorie. Die alten Lederbände waren noch aus seines Vaters Nachlaß, hatten aber lange Zeit bei seinen Rechnungsbüchern in der Schatulle gelegen; nun sahen sie ihn an, wie auch schon seine alte Zeit, und wenn er las, wie früher die pastores von Ost und West, aus Pommern und aus Sachsen in unsere Stadt gekommen waren und wie nun hier auf ein paar Buchseiten sich ihr Leben eines nach dem andern abspann, dann blickte er wohl halb verwirrt empor und wunderte sich, wie er und der Dompfaff doch noch immer weiterlebten.
Wurde es Sonntag, so zog er stets ein frisch gebleichtes Hemd an; dann dachte er seiner sauberen Hausfrau. »Line – Line Basch!« sprach er und nickte mit seinem grauen Kopfe. »Du siehst es doch!« Und während er sich langsam in sein Sonntagszeug kleidete, war ihm, als täte er es noch wie einstmals unter ihren Augen.
Dann ging er in die Kirche, um von dem alten Propsten, mit dem er als Junge in Quarta auf der Schulbank gesessen hatte, Gottes Wort zu hören; nach der Kirche ging er zurück und seinem Hause vorbei über den Kirchhof nach dem Stift. Aber seine alte Schwester war stumpf geworden. »Wat schrift Fritz?« war immer ihre erste Frage, auf die er nur selten etwas zu antworten hatte; dann frug sie weiter: »Wat hett de ol Propst denn seggt?« Er berichtete ihr den Inhalt der Predigt, soweit er ihn behalten hatte; wenn er aber damit zu Ende war, dann war schon längst der Kopf der bald Neunzigjährigen auf die Brust gesunken, und ihre Seele schwebte in der Dämmerung, auf welche die Nacht folgt. Er saß noch eine Weile und sah auf die alten Schwesterhände, die ihm von seiner Kindheit an geholfen hatten; und wenn die Schlafende sich nicht mehr rührte, nickte er ihr schweigend zu und ging hinaus und langsam seinem Hause zu.
Das waren die beiden einzigen Gänge, die Daniel Basch in seinen Sonntagskleidern machte.
In seinem Garten wuchsen allmählich die Kartoffelstauden in die Höhe und bildeten bald eine gleichmäßig grüne Fläche, aus welcher nur der große Birnbaum hervorragte, der in der Mittagssonne seine breiten Schatten um sich her warf. Um diese Zeit, aber auch spätnachmittags, wenn schon das Abendrot am Himmel stand, sahen die Nachbaren über den Zaun ihrer Gärten den alten Meister oft auf der Bank, die auch jetzt noch um den Baum lief, sitzen, den etwas gebeugten Rücken an den Stamm gelehnt, die Hände vor sich auf die Knie gefaltet, wie einen, dessen Tagewerk zu Ende ist; und als im Juni sich die Stauden mit den zierlichen blauen und weißen Blüten bedeckten, saß er wie in einem Blumenmeer. Auch war ein Plätzchen, dicht am Fuße des Baumes, nicht zum Kartoffelfeld gezogen; Fritzens Blumenbeete waren hier gewesen, und Meister Daniel hatte im letzten Frühjahr alles Unkraut ausgereutet und statt dessen roten Gartenmohn darauf gesäet. Er wußte wohl nicht, daß das die Blume der Vergessenheit sei; sie war für ihn vielmehr das Gegenteil, denn Fritz und seine Mutter hatten sie einst so gern gehabt. Und als später die Kartoffelstauden mit den lichtgrünen Äpfeln und schon in dunkeln Blättern standen, öffnete neben ihnen der Mohn seine Knospen und wiegte die leuchtend roten Blumen in dem schwülen Sommerhauch.
Der alte Mann, der auf der Bank daneben saß, schien freilich wenig zu dieser Sommerpracht zu passen: der Bart schien seit acht Tagen nicht rasiert zu sein, und die tiefliegenden blaßblauen Augen sahen wie über Welt und Leben hinweg. Er hatte den Brief, den er in der Hand hielt, eben vielleicht zum zehnten Mal gelesen: er war von Fritz; Fritz war nach Kalifornien gegangen.
Das Goldfieber war derzeit noch lange nicht vorüber; noch manchen lockte es in die Minen und manchen in den Tod; manchem schlugen dort die Keime seiner Natur zu Trunksucht, Spiel und Raub, die vielleicht für immer sonst geschlafen hätten, in Wucherpflanzen auf und erstickten ihn. Freilich war Fritz nicht als abenteuernder Minierer, sondern als festgedungener Böttcher für eine dortige Exportschlachterei mit einem Hamburger Genossen hinübergegangen, aber das Wort »Kalifornien« klang doch wie Gold und Abenteuer, und es war zuerst vor seinem Ohr geklungen, da er aus jenem Briefe seines Vaters dessen drohende Verarmung herauszulesen meinte. Er hatte seine feste Arbeit; aber wenn die Gelegenheit käme, weshalb sollte er nicht auch dazwischenspringen und
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