Werke
fielen etwas sparsamer als gewöhnlich. »Du hast wohl einen strammen Tag gehabt?« sagte Freund Lenthe; aber bevor ich antworten konnte, war meine Frau bei mir und legte beide Arme um meinen Nacken. »Franz, dir fehlt etwas!« rief sie, und ihre Stimme klang, als ob sie zürne, daß mir, der nur ihr gehörte, von andern ein Leides angetan sein könne.
Ich strich sanft über ihren Scheitel: »Geh an deinen Platz, Elsi! Mir fehlt nichts; niemand hat mich gekränkt!« Ich drückte ihr heimlich die Hand; da ging sie schweigend wieder zu ihrem Stuhl, aber mit rückgewandtem Haupte, und ihre erschreckten Augen hingen an den meinen.
»Sieh mich nicht so sorgenvoll an!« sagte ich; »was mich heute mehr als billig erregt hat, ist nur ein Fall aus meiner Praxis: unsere alte Grünzeughökerin, Mutter Hinze, die ihr alle kennt, ich möchte sagen, sie leidet mehr, als ein Mensch ertragen kann; ich war zuletzt noch eine volle Stunde bei ihr, und – ein Arzt ist am Ende doch auch nur ein Mensch!«
»Oh«, rief Elsi und hielt sich, wie zum Schutze, ihre beiden kleinen Hände vor den Mund, »ich könnte nicht, ich würd vor Mitleid sterben!«
»Sie sollen auch nicht, liebe Frau!« sagte Lenthe lächelnd. »Sie sind kein Arzt; bei denen und den Advokaten pflegt die uns gleich überfallende Denkarbeit das Mitleid zu verzehren.«
»Ja, Lenthe«, entgegnete ich, »aber auch das hat seine Grenzen; und übrigens ist es bei uns Ärzten auch noch ein anderes als nur das Mitleid; wie oft flog es mir beim Anblick solcher Leiden durch den Kopf: Das ist menschlich, binnen heut und kurzem kannst auch du so daliegen; es ist nur ein Spiegel, in dem du dich selber siehst! Aber das war es diesmal nicht!«
Lenthe sah mich fragend an.
»Glaub mir«, sagte ich, »ich sah nichts als die vergebens mit ihren Schmerzen ringende Alte, die mit ausgespreizten Händen in die Luft stieß und, als wolle sie sich Hülfe rufen, die Kiefern aufeinanderschlug, aber nichts hervorbrachte als so grauenhafte Laute, daß ich bis jetzt sie im Umkreis des Lebendigen nicht für möglich gehalten hätte.«
Als Lenthe mich um Näheres befragte, hatte ich mich ganz ihm zugewandt und teilte ihm noch mehreres über diesen mich wissenschaftlich und menschlich beschäftigenden Fall mit. Da kam Frau Käthes Stimme wie vorsichtig zu mir herüber. »Doktor«, sprach sie, »Ihre Frau!«
Als ich aufblickte, sah ich Elsi bleich und mit geschlossenen Augen in den Armen ihrer Freundin. Ich ging zu ihnen, und da es nur eine leichte Ohnmacht war, so wurde sie bald beseitigt. Da sie sich wiedergefunden hatte, brachte sie hastig ihre Lippen an mein Ohr. »Verzeih mir, Franz!« flüsterte sie, »ich kämpfte, ich konnte nicht dagegen!« Ihre Augen begleiteten mich schmerzlich, als ich nach einer beschwichtigenden Liebkosung auf meinen Platz ging.
Aber die Behaglichkeit des Abends war gestört und wollte sich nicht wiederherstellen. Als wir früh nach Hause gingen, klammerte sich Elsi an meinen Arm und atmete stark, als ob sie in dem Halbdunkel der Gassen mir etwas bekennen oder anvertrauen wolle und doch nicht dazu kommen könne.
Ich wollte ihr zu Hülfe kommen, ich sagte: »Was fiel dir ein, Elsi, daß du nach deiner Ohnmacht mich um Verzeihung batest? Das hätte meine Bitte an dich sein sollen, da ich diese Schrecknisse in Frauengegenwart vorbrachte.«
Aber sie schüttelte den Kopf und lehnte sich nur fester an mich: »Nein, Franz, sprich nicht so; ich fühle eine Schuld; nicht weil es so ist, denn dafür kann ich nicht; nein, weil ich dir’s nicht sagte, bevor ich des berühmten Arztes Frau wurde. Ich habe manchmal heimlich gezittert, daß es sich dir verraten möchte, und du mußt es ja doch wissen. O Franz, ich bin ein feiges Geschöpf, aber mein Leib hat nie von Schmerz gelitten, so daß ich, wenn andere klagten, mir oft als eine fast Begnadete erschienen bin; dafür aber bin ich mit einer Todesangst vor aller Körperqual behaftet. Als eine jüngere Schwester von mir geimpft werden sollte und ich den Arzt die Lanzette hervorholen sah, bin ich fortgelaufen und habe mich in einem Hinterhöfchen so tief zwischen alte Fässer versteckt, daß man erst spät am Abend mich dort auffand und halbtot vor Angst hervorzog. Als du von unserer unglücklichen Alten sprachst, da war es plötzlich nicht mehr sie, ich war es selbst, in der die schaudervollen Schmerzen wühlten; oh!«, und sie stand still und stöhnte, als ob das Gefühl ihr wiederkomme; »sollte in Wirklichkeit mir das
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