Werwelt 01 - Der Findling
sie zudecken könnte, kann ich nur versuchen, sie mit meinem eigenen Körper warmzuhalten, während ich die Straße entlangstapfe, in der Richtung, aus der der Wagen kam. Was, wenn ein Auto kommt und die Leute mich sehen? Mir ist es jetzt, wo ich dank der Marotten dieser betrunkenen Frau aus meinem erzwungenen Schlaf erwacht bin, ziemlich gleichgültig. Sollen sie mich ruhig sehen. Ich trotte durch die Dunkelheit, während meine Sinne uns vorauseilen, um ein Haus oder irgendein Zeichen von Leben aufzuspüren; doch es ist, als wäre der Planet von Menschen leergefegt. Das bißchen Leben, das ich wahrnehme, sind die wilden Tiere, die in der Kälte erfrieren oder fest zusammengerollt in einem so tiefen Schlaf liegen, daß sie beinahe ohne Leben sind. Dann erspüre ich weiter vorne ein kleines Gebäude und falle in Laufschritt.
Aber auch dort wartet kein Leben. Es ist nur ein verlassener Schuppen, der abgesehen von ein paar Obstkisten aus Holz und einigen alten Säcken in der Ecke leer ist. Ich lege die Frau drinnen auf die Säcke und trete wieder hinaus in den Wind. Ich schicke meine Sinne bis an die äußerste Grenze ihres Wahrnehmungsbereichs hinaus, aber ich kann kein menschliches Leben aufspüren, keine andere Unterkunft. Ich überlege, ob es besser ist, einfach so weit zu laufen, wie ich kann, aber nein, die Frau ist schon sehr kalt, sie würde gewiß erfrieren. Zuerst muß ich sie wärmen. Ich gehe zurück in den Schuppen, wo sie noch genauso daliegt, wie ich sie zurückgelassen habe. Ich schließe die Tür und schiebe ein paar Kisten davor, um sie gegen den Wind zu sichern. Dann lege ich mich nieder und nehme die Frau in meine Arme, hülle ihren Körper mit meinem Pelz ein. Ihre Füße lege ich zwischen meine Hinterläufe, ihre Hände unter meine Vorderläufe, und dann schicke ich mehr Wärme durch meinen Körper. Ich spüre, wie ihre eisigen Hände und Füße langsam warm werden. Sie rührt sich in meinen Armen, drückt ihr Gesicht in den dichten Pelz meiner Schulter. Ich fühle, daß sie nahezu bei Bewußtsein ist, doch ihr Geist ist nicht wach, und was sie sagt, ergibt keinen Sinn.
»Roger, das geht doch nicht, Süßer. Was soll denn die Gastgeberin denken?«
Ich ertappe mich dabei, daß ich die Frau in meinen Armen wiege, als wäre sie ein Junges. Kann ich solche Gefühle für ein menschliches Wesen, für eine Frau empfinden? Ich verspüre eine große Sanftheit dieser Frau gegenüber. Es ist angenehm, ihren Körper an den meinen zu halten, und ein Weilchen nicke ich ein, sträube mein Fell, um die Kälte abzuhalten und ziehe ein paar von den Säcken über unsere Körper, um dann in einen leichten Schlummer zu gleiten. Draußen heult der Wind durch den nachtdunklen Schnee.
Als das Licht kommt, höre ich wieder irgendwo in den Tiefen, von dort, wo ich ihn hingestoßen habe, Charles schreien. Die Frau ist warm und atmet leicht, aber sie ist nicht wach. Ich erlaube Charles, näherzukommen.
»Das ist nun aber wirklich nicht fair«, sagt er. »Du kannst dich nicht einfach so einmischen. Ich bin froh, daß du uns gerettet hast, ich bin dir wirklich dankbar, aber das ist mein Leben.«
»Unser Leben, Charles.«
»Du kannst hier nicht bleiben. Es kommen bestimmt bald Leute vorbei und finden das Auto, und deine Spuren führen hierher.«
»Der Wind hat sie verwischt.«
»Los, laß mich jetzt raus.«
»Ich fühle mich sehr wohl hier. Ich mag den Körper dieser Frau. Auch sie fühlt sich wohl. Du kannst sie nicht warmhalten.«
»Wenn sie aufwacht und dich sieht, bekommt sie vor Schreck einen Herzschlag.«
Es macht mir Spaß, mit Charles zu sprechen, und während er redet, halte ich die Frau und genieße das angenehme Gefühl, ihren warmen Körper an den meinen zu halten.
»Was ist mit der Geschichte, Charles?«
»Wovon redest du?«
»Die Schöne und das Tier.«
»Du bist ja verrückt. Das ist doch nur ein Märchen. Das ist nie passiert.«
»Vielleicht doch. Aber in der Geschichte war ja die Frau die Heldin.«
»Sie ist nicht deine Freundin. Sie ist meine Freundin. Sie weiß nicht einmal, daß es dich gibt.«
»Ich könnte ihr Tier sein, und sie könnte lernen, mich zu lieben.«
Sachte lasse ich eine Pfote unterhalb ihrer Taille über ihr Kleid gleiten und fühle, wie ihr schlafender Körper reagiert.
»Hör auf damit«, schreit Charles mich an. »Das ist grauenhaft. Hör sofort auf.«
Die Frau läßt ein kleines Stöhnen der Wollust hören und legt einen Arm um meinen Hals.
»Siehst du, sie könnte
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