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Werwelt 01 - Der Findling

Werwelt 01 - Der Findling

Titel: Werwelt 01 - Der Findling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Stallman
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besaß und mit endlosen Bildern von Verführung und Vergewaltigung von seinen Träumen Besitz ergriff. In der Schule hatte er zum erstenmal Schwierigkeiten, sich auf seine Aufgaben zu konzentrieren. Sein Geist schien nur ein zischend umherflitzender Wassertropfen auf einer heißen Herdplatte zu sein. Wenn er versuchte, die Exportgüter der britischen Kolonien auswendig zu lernen, pflegte er sich dabei zu ertappen, daß er mit leerem Hirn auf Betty Baileys hübsche Waden starrte oder auf Flossie Portolas Busen, der ihm faszinierende Geheimnisse zu bergen schien, oder gar auf Miss Wrigleys schwingenden Rock, wenn sie mit raschem Schritt zwischen den Bankreihen auf und ab ging. Dann stieg ihm heiße Röte ins Gesicht und er verfluchte das, was er für das Tier in sich hielt, das sein Denken und seine Träume mit wilden Phantasien von Lust anfüllte.
    Doch es war noch Januar, der kälteste seit langem, wenn man den alten Leuten glauben durfte, und da gab es wenigstens Zerstreuung durch kalte Spiele im Schnee und lange, mühsame Wanderungen über das weiße Land, wenn er mit den Bent-Jungen auf Kaninchenjagd ging.
    Nachdem er von Mrs. Lanphier seinen Glücksbringer zurückerhalten hatte, schien er auf wunderbare Weise geheilt. Es kamen noch immer Momente träumerischer Abwesenheit, wenn er ein heimliches Lächeln von Brenda Gustafson auffing oder beim Austausch eines Arbeitsblatts zufällig Betty Baileys Hand berührte und den koketten Blick sah, den sie ihm zuwarf, doch die Nähe des Steins errichtete eine Schranke zwischen Charles und den unerträglichen Flammen der Lust, unter denen er gelitten hatte. In seinen Träumen stellte er noch immer die abscheulichsten und doch herrlichsten Dinge an, erlebte Abenteuer der Liebe, die einen Casanova fertiggemacht hätten, doch das waren Träume. Die Realität hatte jetzt wenigstens wieder ein vernünftiges Gesicht angenommen, und er konnte sich von neuem mit voller Konzentration der Arbeit in der Schule widmen. Miss Wrigley lächelte wieder häufiger und half ihm mit Ermutigungen nach seinem »Durchsacken«, wie sie es bezeichnete, zu Beginn des Halbjahrs.
    Der zwingende Drang, mitten in der Nacht aufzustehen und aus dem Haus zu schlüpfen, damit das Ding in seinem Inneren im Schnee herumtollen und die Tiere in den Ställen töten konnte, war ausgelöscht. Charles dachte nicht oft über das nach, woran er sich aus jenen Nächten kurz nach Weihnachten noch erinnern konnte. Es war dies eine andere Art von Traum, und wenn Jungen in der Schule erzählten, daß Wölfe aus dem Norden heruntergekommen wären und unter dem Vieh gewütet hätten, dann sperrte Charles alle Erinnerungen, die er an jene nächtlichen Massaker haben mochte, entschlossen weg und widerstand dem Impuls zu sagen: »Das ist gelogen, Harry. Es waren nicht vier Schafe. Es waren nur zwei.«
    Im Februar kam der große Schnee. Am Ende der ersten Februarwoche, als grauer, hart gefrorener Schnee noch fußhoch die Erde bedeckte, begann es eines Nachmittags, in dichten Flocken zu schneien. Charles und die anderen Kinder saßen im Klassenzimmer und starrten wie hypnotisiert durch die hohen Fenster hinaus in das wilde Schneegestöber. Schon konnte man die Balsampappeln in der Mitte des Schulhofs nicht mehr sehen, dann verschwand der Spielplatz, der dem Gebäude näher lag, und schließlich war es, als wäre die ganze Welt in einem wirbelnden Meer von Schnee versunken, und jenseits der Fenster war nichts als das undurchdringliche Weiß der tanzenden Flocken. Charles bildete sich ein, zu spüren, wie das Schulhaus in den wogenden Schneemassen schwankte, während er von Fenster zu Fenster blickte und überall nur das gleiche blendend weiße, unaufhörliche Auf und Nieder der Flocken sah.
    Allmählich vergaßen sie alle den Unterricht, standen in ihren Bänken auf oder wanderten wie im Schlaf zu den blinden weißen Fenstern. Miss Wrigley legte ihr großes Geschichtsbuch aus der Hand und stand auf, eine Hand in die Hüfte gestemmt, die andere zu ihrer Wange erhoben. Auch sie blickte jetzt zu den Fenstern, durch die nichts zu sehen war als Schnee.
    An diesem Tag durften sie früher nach Hause gehen. Manche Eltern kamen ihren Kindern auf der Straße entgegen, um sicherzugehen, daß sie sich in dem Schneesturm, der alle Orientierungspunkte für das Auge verhüllte, nicht verliefen. Kein Fahrzeug bewegte sich auf der Landstraße, die sich wie ein breiter, seichter Graben durch das arktische Weiß zog, eine Führungslinie zu den im

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