Werwelt 01 - Der Findling
bereit ist.
Tolpatschig wie zwei Jungen im Schulhof knuffen und puffen sie sich im Kies, und ich denke mir, daß sie schon vorher einen Krug getrunken haben müssen, denn beide sind so unsicher auf den Beinen, daß sie nur noch torkeln. Dann sieht der kleinere einen Vorteil und stößt Gus sein Knie mit aller Wucht zwischen die Beine. Gus heult auf und läßt den Krug fallen, während er im Unkraut am Rand der Böschung zusammensackt.
»Gib mir auch was, Rusty«, winselt der alte Mann.
Rusty hebt den Krug, gießt aber den größten Teil des Weins an dem gierig geöffneten Mund vorbei.
»Scheiße, Rusty, du verschwendest ja alles«, stößt der alte Mann schluchzend hervor.
Rusty hält den Krug hoch, bis der Mondschein ungebrochen durch das Glas flutet, und dann wirft er den Krug in meine Richtung. Beinahe hätte ich ihn gefangen. Sobald Gus stumm aufgestanden ist und den anderen hinterherhumpelt, nehme ich den Krug auf und rieche daran. Die aufsteigenden Dünste geben mir das Gefühl, daß mein Kopf sich erweitert. Ich stecke meine Zunge in den Krug, hebe ihn an und erwische tatsächlich noch ein paar Tropfen. Sie liegen mir wie ein brennendes goldenes Feuer auf der Zunge. Herrlich. Ich möchte mehr haben und schüttle voller Verwundern und voller Verlangen den Kopf.
Ich durchschleiche das hochstehende Unkraut zum Brückenpfeiler aus Beton und lausche. Der Alte hustet und hustet unten am Bach. Die anderen hocken nahe der Betonwölbung beieinander.
»Wenn ihr Kerle auch nur einen Funken Mumm hättet, könnten wir im Handumdrehen einen Haufen Kröten machen.« Die Stimme ist leise und heiser. Rustys Stimme.
»Meinst du vielleicht, ich will im Knast landen?« entgegnet Tommy. »Nie im Leben. Von meiner Familie hat noch nie einer gesessen.«
»Ja, ja, ich weiß schon«, versetzt Rusty. »Ihr drei zusammen habt nicht mal genug Mumm, um ’ne tote Katze vom Misthaufen zu ziehen.«
»Was willst du denn tun, du Großmaul?« fragt der alte Mann, um Atem ringend. »Willst du vielleicht zu so ’nem reichen Bauern hingehen und sagen, he, gib mir ein bißchen Geld? Mensch, da fallen höchstens die Hunde über dich her, und der Fettsack brennt dir mit seiner Flinte einen auf den Pelz.«
Rusty torkelt aus dem Schatten der Brücke hervor und pflanzt sich im Mondlicht auf, um ins Gras hinaus zu urinieren. Sein Körper schwankt träge vor und zurück, so, als befände er sich unter Wasser und bewegte sich mit einer langsamen Strömung hin und her.
»Da ist dein Wein, Gus«, sagt er, das Kinn auf die Brust gedrückt. Er versucht, seine Hose zuzuknöpfen, schafft es nicht und gibt es schließlich auf. Er torkelt wieder in den Schatten der Brücke zurück.
»Also, wie würdest du’s denn anfangen? Du bist doch so gescheit«, sagt Gus zu ihm.
»Genau nicht anders als sonst, wenn wir um eine milde Gabe bitten«, erwidert Rusty. »Nur ist die milde Gabe größer, kapiert?«
Ich höre, wie er seinen Körper nach rückwärts neigt und im Schmutz ausstreckt. Sie betten sich jetzt alle zur Ruhe, rollen sich zusammen wie herrenlose Hunde, die schlafen wollen.
»Also, du kommst den Weg zum Hof entlang, verstehst du? Die Frau ist vielleicht draußen und hängt Wäsche auf, und der Alte ist mit den Arbeitern auf dem Feld. Du fragst, ob sie nicht was für dich zu arbeiten haben, und wir andern warten inzwischen irgendwo.« Seine Stimme wird leiser, senkt sich beinahe zu einem Flüstern. Er ist kurz davor, einzuschlafen.
»Und dann?« Gus hockt noch immer aufrecht da.
»Und dann schnappst du dir die Alte als Köder«, flüstert Rusty.
»Wie meinst du das?«
Es kommt keine Antwort. Rusty ist eingeschlafen. »Ihr wollt wirklich einen Hof überfallen?« flüstert Tommy von seinem Platz neben Rusty.
»Ach wo, nie. Schlaf du lieber«, sagt Gus. Er schüttelt seinen großen zottigen Kopf. »Ich hab’s nur satt, dauernd im Dreck zu schlafen.«
Ich lausch noch eine Weile, aber das einzige Geräusch, das ich höre, ist das endlose Husten des alten Mannes.
In der Welt der Tiere sichern nur gesunde Reflexe das Überleben. Die Maus muß sich mit großer Geschwindigkeit fortbewegen, um der Eule, dem Frettchen, der Katze zu entkommen; und deren Reflexe wiederum sind jedem menschlichen Reflex weit überlegen. Der Mensch muß erst durch das Adrenalin in einen Zustand nahezu besinnungsloser Erregung geraten, ehe sich seine Reaktionsgeschwindigkeit auch nur halbwegs mit jener der meisten Tiere messen kann. Auch die Schlange, die für die
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