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Werwelt 01 - Der Findling

Werwelt 01 - Der Findling

Titel: Werwelt 01 - Der Findling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Stallman
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nicht sehen kann. Es ist zwar angenehm, dazuliegen und zuzusehen, wie die Blitze draußen über dem See zuckend von Wolke zu Wolke springen, aber ich verspüre ein bohrendes Schmerzgefühl, das ich nicht kenne, als hätte ich irgendwo eine zuckende Wunde. Ich werde es wissen, wenn ich am richtigen Ort angekommen bin, ganz gleich, wie weit er sein mag, und dort werde ich versuchen, in eine angemessene Gestalt zu schlüpfen, um mein Menschendasein fortzusetzen.

    Nach den Kindern zu urteilen, die ich bisher gesehen habe, muß dieser Junge zwischen neun und zwölf Jahren alt sein. Er sitzt im Heck eines halbversunkenen alten Ruderboots, das an einer dicken Weide festgemacht ist und ein Stück in den Fluß hineinragt. Er trägt einen Strohhut und die Latzhose, die alle Bauernjungen tragen. Seine Angel ist nichts weiter als ein gewöhnlicher Stock, an dessen Ende eine Schnur geknüpft ist. Während ich ihm zusehe, fängt er zwei Fische, die Schnurrbarthaare haben und offenbar beißen oder Stacheln haben. Mir sind diese Fische unbekannt, und ich falle beinahe in den Fluß vor lauter Begierde, sie besser sehen zu können. Auf dem Rücken sind sie grünlichschwarz, und auf dem Bauch strohgelb, und sie haben breite Mäuler. Der Junge scheint unzufrieden mit seinem Fang, doch er hängt sie an einer Schnur auf, die ins Wasser baumelt, damit sie ihm nicht entwischen können.
    Ich beobachte ihn schon seit einiger Zeit mit großer Aufmerksamkeit, um seine Persönlichkeit auf meine Gefühle wirken zu lassen, und nun bin ich beinahe bereit. Ich schicke meine Sinne aus, finde aber nicht mal einen Hund in der Nähe, nur Eichhörnchen, und am äußersten Rand meines Wahrnehmungsbereichs, an der Flußbiegung, zwei Enten im Schilf. Ich beginne den Konzentrationsprozeß, der Name kommt näher, während ich spüre, wie mein Selbst sich zu einem winzigen Punkt zusammenzieht, der wie ein Lichtfunke ist, und der Name legt sich von selbst in meinen Mund, während die Verwandlung vor sich geht: Charles Cahill.
    Ich bin noch gegenwärtig bei der Verwandlung, wie immer, wenn ein neuer Mensch ankommt. Charles hält den Overall, den ich für ihn gestohlen habe, in den Händen und betrachtet ihn. Das Kleidungsstück ist zu klein. Charles ist größer, als ich es erwartet hatte, ein wenig kräftiger, glaube ich, als der Junge, der unten im Wasser in seinem Boot sitzt. Er steht auf und geht etwas schwankend nach rückwärts zu einigen Büschen, versucht, den Overall überzuziehen. Aber er ist viel zu eng. Während er lachend mit dem Kleidungsstück kämpft, frage ich mich, wie es geschehen konnte, daß ich mich in einen Menschen verwandelt habe, der soviel größer und kräftiger ist, als ich vorhergesehen habe. Flüchtig überkommt mich ein Impuls, es noch einmal zu versuchen, da dieser Mensch mir fremd scheint, aber mir fällt ein, daß mein Wesen nun über drei Monate lang in einem ganz anderen Menschen gewohnt hat, einem viel kleineren und jüngeren Menschen, also reagiere ich vielleicht nur auf die Veränderung. Ich halte es für unmöglich, daß ich mich in einen Menschen verwandeln könnte, der nichts mit mir gemein hat. Aber dieser Junge braucht Kleider. Ich bin drauf und dran, da etwas zu unternehmen, als er plötzlich, ehe ich ihn aufhalten kann, den Overall fallen läßt und zur hohen Uferböschung rennt, wo ich verborgen gelegen habe. Ich sammle mich, um meine eigene Gestalt anzunehmen, zögere jedoch, dies mitten in der Luft zu tun; wir fliegen nämlich jetzt, direkt über den Kopf des erschrockenen Jungen im alten Fischerboot hinweg, vom hohen Ufer durch die Luft und tauchen aufklatschend kopfvoraus in den Fluß.
    Eine Fontäne schlammigen Wassers in die Luft prustend, kommt Charles Cahill an die Oberfläche. Er fühlt sich im Wasser offenbar ebenso zu Hause wie ich, schwimmt mühelos weiter in die Strömung hinaus, ehe er sich nach dem blaßgesichtigen Jungen im Ruderboot umdreht, der vor Schreck seine Angel fallengelassen hat und jetzt zusieht, wie sie im Wasser davontreibt.
    »He!« brüllte Charles. »Hab’ ich dich erschreckt?«
    »Und wie, und zum Lachen ist das überhaupt nicht. Das ist die einzige Angel, die ich hab’, und jetzt ist sie weg«, rief der andere Junge ärgerlich zurück.
    »Dann spring doch rein und hol sie.«
    »Ich kann nicht schwimmen.«
    Mit kräftigen Stößen gegen die Strömung ankämpfend, kraulte Charles zum Boot zurück und holte die Angel aus dem Wasser.
    »Hier!« Er reichte sie dem Jungen im Boot, der

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