Werwelt 01 - Der Findling
ihn musterte.
»Danke. Wer bist denn du?«
»Charles Cahill. Und du?«
»Douglas Bent. Ich wohn da oben auf dem Hügel in dem weißen Haus neben dem Doppelsilo.«
»Ja, ich seh’s«, sagte Charles, der am Bootsrand hing und seine Beine in die Strömung hinausstreckte. »Ein ganz schön großer Kasten. Wieso bist du nicht beim Heuen wie alle anderen?«
»Ach, mein Pa läßt mich immer fischen gehen, wenn ich Lust dazu habe«, antwortete der Junge im Boot, den Blick abwendend.
»Du mußt ja einen prima Vater haben. Ich hab’ da draußen auf dem Haferfeld, das zu euerm Hof gehören muß, einen Haufen Männer und Jungen gesehen. Die schuften ganz schön, so schaut’s jedenfalls aus.«
»Ich hab’ da kein Talent dafür«, versetzte Douglas und sah Charles direkt ins Gesicht, als wollte er ihm eine runterhauen.
»Wieso denn das?« erkundigte sich Charles, während er das Boot hin und her schaukelte, daß auf beiden Seiten Wasser hineinschwappte.
»Hör auf!« sagte Douglas. Er hob ein Bein und legte es auf den Rand des Bootes. Es sah aus, als hätte er eine silberne Schraube im Fuß. »Weil ich ein Hinkebein bin.«
Charles sah sich den verschraubten Fuß eingehend an und entdeckte, daß der Junge eine wie ein U geformte Schiene trug, die bis ins Hosenbein hineinreichte. Der Fuß steckte in einem Schuh und sah steif aus. »Hast du ein verkrüppeltes Bein?« fragte Charles, als handelte es sich um eine phantastische neue Erfindung.
»Ich hab’ Kinderlähmung gehabt, als ich klein war«, erklärte Douglas und zog sein Bein wieder ins Boot. »Gehen kann ich ganz gut, aber zum Heuen und so reicht’s nicht.«
»Mensch, sei froh, dann brauchst du wenigstens nicht bei der Feldarbeit zu schwitzen und brauchst die schweren Milchkannen nicht zu tragen oder so was«, meinte Charles begeistert.
»Das wär mir aber viel lieber«, versetzte Douglas. »Aber Ma sagt, daß eben nicht alle Wünsche in Erfüllung gehen.« Er lächelte schief, als wollte er gleich zu weinen anfangen.
Charles merkte, daß er dem Jungen nicht helfen konnte, seinem Leiden gute Seiten abzugewinnen, und daß Douglas wahrscheinlich nicht viel Zeit damit zubrachte, darüber nachzudenken.
»Na, wenigstens hast du eine Familie und ein Bett zum Schlafen«, meinte Charles, das Kinn auf dem Heck des Boots. »Ich hab’ gar nichts, nicht mal was zum Anziehen.«
»Du hast nichts zum Anziehen?« echote Douglas mit großen Augen. »Wieso denn?«
»Ach, ich habe heute morgen da oben bei der Eisenbahnbrücke Rast gemacht, weil ich bin bißchen schwimmen wollte. Ich weiß natürlich, daß es blöd ist, seine Kleider einfach rumliegen zu lassen, aber ich war gerade erst von einem Güterzug abgesprungen, und mir war so heiß wie in einem Backofen, da hab’ ich sie einfach ausgezogen und bin reingesprungen. Ich bin gleich wieder umgekehrt, aber da waren sie schon weg.«
Douglas nahm seinen Hut ab und wischte sich die Stirn. Sein glänzendes, schwarzes Haar klebte schweißfeucht an seinem Kopf. Er hatte tiefbraune Augen und ein gutmütiges Gesicht mit einer unglücklich aufgeworfenen Nase, die über dem großen Mund fehl am Platz schien. Charles musterte das Gesicht einen Moment lang. Douglas, fand er, hatte große Ähnlichkeit mit einem Frosch. In diesem Augenblick lächelte Douglas strahlend, öffnete seinen Mund und lachte.
»Und da bist du den ganzen Tag nackig rumgelaufen?« Douglas lachte wieder, ein wenig zaghaft zunächst, fand es dann aber wirklich komisch und warf sich lachend im Boot hin und her, während er sich mit dem Hut das Gesicht fächelte. »Du bist bestimmt genau bei der alten McGee vorbeigekommen«, stieß er prustend hervor. »Wenn sie dich splitterfasernackt bei ihrem Haus gesehen hätte, hätte sie bestimmt die Nationalgarde geholt.«
Darüber mußte auch Charles lachen, und er schwor, er hätte im Vorgarten der alten McGee ein kleines Tänzchen aufgeführt, wobei er seine Blöße mit Rhabarberblättern bedeckt hätte. Douglas lachte, bis ihm die Tränen kamen, und Charles fand den kleinen Jungen nett, weil er so einen guten Humor hatte. Nach einer Weile beruhigten sich beide.
»Und du wohnst gar nirgends?« fragte Douglas.
»Ach, manchmal schlafe ich in einem Abflußrohr und mal in einem alten Haus wie ein streunender Hund«, antwortete Charles wahrheitsgemäß. »Ein richtiges Zuhause habe ich nicht, nein.«
Douglas ließ sich das eine Weile durch den Kopf gehen, während er Charles scharf in die Augen blickte, um zu sehen, ob
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