Werwelt 01 - Der Findling
altes, verwitwetes Kaninchen inmitten undurchdringlichen Gestrüpps lebte. Ihr Mann war vor etwa fünfzehn Jahren gestorben, und die Nachbarn hatten längst jeden Versuch freundschaftlichen Verkehrs mit ihr aufgegeben. Den meisten war es ziemlich gleichgültig, ob sie noch immer inmitten dieses undurchdringlichen Urwalds lebte oder inzwischen gestorben oder von wildwuchernden Pflanzen und Bäumen verschlungen worden war. Hätte sie sich nicht alle paar Tage bei gutem Wetter draußen bei ihrem Briefkasten gezeigt, so hätten sie angenommen, es gäbe sie gar nicht mehr. Denen, die sich ihr in guter Absicht näherten, begegnete sie mit scharfer Zunge, denen, die andere Absichten zeigten, mit Heftigkeit. Ein Hausierer und Scherenschleifer, der hin und wieder diese Gegend abklapperte, erzählte, er wäre mit einem Besenstiel verprügelt worden, weil er sie mit Schmeicheleien dazu hatte bewegen wollen, ein Stück parfümierte Seife zu kaufen.
Charles hörte sich Douglas’ Erzählungen über die alte Mrs. Stumway an, während er auf einem tiefhängenden Ast hockte, sich den Magen mit ihren Äpfeln füllte und dabei die Hinterfassade ihres Hauses musterte, die durch das dichte Gewirr von Laub und Dickicht verschwommen auszumachen war. Ihm schien, so eine alte Dame böte gewisse Möglichkeiten, wenn man sich nur auf die richtige Art und Weise an sie heranmachte. Douglas erzählte, sie hätte ihm einmal ein Stück Kuchen geschenkt, weil er ihr wegen seines schlimmen Beins leid tat, seine beiden Brüder möge sie aber überhaupt nicht und hätte wahrscheinlich für seine Familie insgesamt nichts übrig. Charles fand, daß sie da eigentlich nur guten Geschmack bewies, denn auch er mochte die beiden älteren Brüder von Douglas nicht. Sie waren, dachte er, beide mürrische Gefangene der Landarbeit, praktisch Sklaven ihres Vaters, die Seite an Seite mit den Arbeitern schuften mußten, die Mr. Bent anheuerte, aber für ihre Arbeit nicht bezahlt wurden. Beide befanden sich ständig in einem Zustand unterdrückter Wut, der sich so auswirkte, daß sie entweder schlapp und ausgepumpt waren oder, und das war meistens der Fall, gefährlich aggressiv.
»Doug«, sagte Charles und legte dem Jüngeren die Hände auf die Schultern, »du mußt mir eine Unterkunft finden.«
Douglas’ Gesicht zeigte Zweifel. »Wenn du vorhast, bei Mrs. Stumway einzuziehen, dann vergiß das lieber. Sie ist ungefähr genauso freundlich wie ein Schwertfisch.«
»Das kann schon sein, aber ich glaub, eine Frau, die so lebt wie sie, könnte einen wie mich brauchen, der ihr zur Hand geht. Gerade, wo ich so geschickt bin. Ich könnte ihr alles Mögliche richten und das Rattenloch, in dem sie da haust, ein bißchen aufpolieren.«
»Ich glaube, sie mag es so«, entgegnete Douglas.
Es gibt jedoch gewisse Faktoren, von denen Douglas nichts weiß. In den folgenden drei Nächten schleiche ich mich in Mrs. Stumways Wäldchen, dringe bis zu dem alten Steinhaus vor, das dunkel im Schatten der Ahornbäume und Eichen steht. Nur oben brennt in einem der Fenster eine Öllampe, und ich warte, bis die Lampe ausgeblasen wird. Dann springe ich geräuschlos auf das Dach der Veranda, das alt und verwittert ist, aber immer noch solide, husche an der Hausmauer entlang zum Fenster der alten Frau und lausche hinter dem Fliegengitter, bis ich sie in tiefen, regelmäßigen Zügen atmen höre. Es ist einfach, festzustellen, wann sie fest schläft. Sie schnarcht wie eine verrostete Windmühle. Mit langer, vorsichtiger Pfote klappe ich dann die Haken am Fliegengitter hoch und schlüpfe ins Schlafzimmer. Auf dem genoppten Bettvorleger, der verschnörkelte Blumen in einem kreisrunden Garten zeigt, kauere ich nieder und flüstere ihr ins Ohr.
Sie ist zwischen siebzig und achtzig Jahren alt, hat völlig weißes Haar, das oben am Scheitel so dünn geworden ist, daß sich eine kahle Stelle zeigt, einen schmalen Mund, der nachts zahnlos ist, eine hohe, breite Stirn mit feinen Furchen, eine lange, schmale Nase und ein scharfes Kinn, das zur Decke hinauf zeigt, während sie in ihren bauschigen Kissen schläft und langgezogene, pfeifende Schnarchtöne von sich gibt. Ihre Hände sind groß mit langen Fingern, die auch im Alter ihre Anmut nicht verloren haben, obwohl sie mit braunen Flecken übersät sind. Die Hände sehen so aus, als könnten sie noch immer auf einem Klavier oder einem Saiteninstrument spielen. Sie schläft auf dem Rücken, und ihre Hände liegen oben auf der Steppdecke.
Ich
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