Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Werwelt 01 - Der Findling

Werwelt 01 - Der Findling

Titel: Werwelt 01 - Der Findling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Stallman
Vom Netzwerk:
flüstere Charles’ Namen: »Charles Cahill, ein braver Bursche.« Immer wieder flüstere ich die gleichen Worte, während ich dabei denke, wie absurd das ist, und doch habe ich das starke Gefühl, daß dieses Verfahren nicht ohne Wirkung ist. Dem Impuls, im Schutz der Nacht ihr Haus zu erforschen, habe ich widerstanden, denn wenn sie erwachen und mich hören würde, fürchtete sie vielleicht einen Einbrecher, und ich möchte ihr keine Angst machen. Das, glaube ich, wäre die falsche Taktik, wenn ich auch mit dem Gedanken gespielt habe, sie kräftig zu erschrecken, um in ihr das Bedürfnis nach einem Beschützer zu wecken. Die Flüsterpropaganda, die ich um Charles’ Willen betreibe, ist ein interessantes Experiment, und sie gefällt Charles.

    Die beiden Jungen bogen von der Straße ab und wanderten Mrs. Stumways Auffahrt hinauf, die eigentlich gar keine richtige Auffahrt mehr war, da vor Jahren eine Balsampappel quer über den Weg gestürzt und niemals beiseite geräumt worden war. Die Auffahrt war nur noch eine sechs Meter lange Wendebucht, wo einmal in der Woche der Lieferwagen des Lebensmittelhändlers vorfuhr, um die alte Frau mit Proviant zu versorgen. Charles hatte eine Wassermelone, eine von den langen, hellgrünen, als Freundschaftsgeschenk mitgebracht. Douglas war voller Zweifel, gleichzeitig aber auch recht aufgeregt angesichts dessen, was Charles vorhatte. Während sie sich durch das Unterholz zur hinteren Veranda durchkämpften, erwartete Douglas jeden Augenblick zorniges Schimpfen. Er war nervös und verärgert, weil seine Schiene sich immer wieder in den am Boden entlangkriechenden Himbeersträuchern verfing. Als die scharfe Stimme dann tatsächlich kam, erschreckte ihn das so, daß er auf ein Knie fiel.
    »Raus hier, ihr verdammten Gören!« rief eine kräftige Stimme aus der Düsternis der Veranda, die rundum von verhängten Fenstern eingeschlossen war.
    »Mrs. Stumway!« rief Douglas, während er sich wieder hochrappelte. »Wir haben Ihnen eine Melone mitgebracht.«
    »Laßt mich gefälligst in Ruhe, ihr verflixten Fratzen«, schimpfte die Stimme wieder. »Los, ab durch die Mitte, ehe ich euch mit meinem Steinsalz komme.«
    Soweit Douglas bekannt war, hatte die alte Dame weder Steinsalz noch ein Gewehr, doch sie steckte stets voller Drohungen.
    »Das ist mein Freund, Charles Cahill, Mrs. Stumway«, schrie Douglas auf Charles’ Drängen.
    Charles hielt die Melone auf beiden Händen vor sich wie ein kleines Kind, das dem Moloch geopfert werden soll, um seinen Zorn zu besänftigen.
    Auf der Veranda wurde es still, und Charles fragte sich, ob die nächtlichen Einflüsterungen vielleicht tatsächlich etwas an der Einstellung der alten Dame Fremden gegenüber geändert hatten.
    Knarrend öffnete sich die Hintertür, und die alte Frau zeigte sich. Sie trug eine Kopfbedeckung, die wie eine Fliegermütze aussah, nur die große Brille fehlte. Dünne weiße Haarsträhnen umgaben wie kleine kalte Flämmchen ihr ganzes Gesicht. Sie trug ein langes, formloses, braunes Gewand, das ihr in gerader Linie vom Hals bis zu den Füßen fiel. Es sah aus, als stünde dort ein Theaterbaum, auf dessen Spitze das Gesicht einer alten Frau wuchs.
    »Douglas Bent«, sagte sie, als gäbe sie dem Jungen einen Namen. »Komm herein und bring deinen Melonenfreund mit.«
    In der Erwartung, drinnen ein ähnliches Chaos anzutreffen wie draußen, betraten die Jungen Mrs. Stumways Küche; doch die Küche sah genauso aus wie jede andere, war vielleicht sauberer als die meisten. Sie hatte einen ordentlichen Spültisch und eine Pumpe, einen Kerosinherd zum Kochen und einen Tisch mit Emailleplatte, der blitzsauber war. Die Beleuchtung war recht trübe, weil jedes Fenster von Efeu und Wein und verwilderten Zierbüschen überwuchert war. Im grünlich schimmernden Licht, das flackernd durch das Geschlinge leicht bewegter Blätter fiel, fühlte sich Charles beinahe wie in einer Unterwasserhöhle.
    »Du da!« sagte Mrs. Stumway so plötzlich, daß Charles zusammenfuhr. »Leg die Melone auf das Brett. Ihr Burschen wollt wahrscheinlich was von mir, wenn ihr mir schon eine Melone bringt. Aber ich kann mir nicht vorstellen, was es sein soll. Ihr stehlt mir das Obst von den Bäumen, sobald es reif wird. Schlimmer als Häher und Elstern.«
    Charles überlegte, wie er die alte Dame in bessere Stimmung bringen könnte, aber jedesmal, wenn er den Mund öffnete, um etwas zu sagen, schoß sie selbst irgendeine Bemerkung ab, die ihn zum Schweigen brachte.

Weitere Kostenlose Bücher