Werwelt 01 - Der Findling
Cahill«, sagte Mrs. Stumway und sah ihm direkt in die Augen. »Ich wollte nur nicht, daß ihr glaubt, zwei Rotznasen wie ihr könnten eine alte erfahrene Frau wie mich hinters Licht führen.«
Sie legte ihre Hände auf den Tisch. Die Winkel ihres breiten Mundes waren leicht hochgezogen, während sie Charles ansah. Ihr Gesicht, das das Alter runzlig und füchsisch gemacht hatte, erinnerte Charles an jemanden, aber er hätte nicht sagen können, an wen. Er lächelte sie mit seinem, wie er meinte, gewinnendsten und einschmeichelndsten Lächeln an. Er hatte ein Zuhause.
Charles stellte bald fest, daß die alte Frau, auch wenn sie eine scharfe Zunge hatte und ihn manchmal der Faulheit bezichtigte, nur höchst selten in Zorn geriet und ihm nicht viel an Arbeit abverlangte. Als am folgenden Dienstag in dem kleinen Backsteinbau unten an der Straße die Schule begann, fühlte sich Charles bei Mrs. Stumway schon ganz zu Hause und freute sich darauf, endlich das Lesen lernen zu können.
Miss Jessie Wrigley fand es nicht verwunderlich, als am ersten Schultag Charles bei ihr erschien, um Aufnahme in die erste Klasse zu beantragen. Er war so groß und kräftig, wie sich das für einen Zwölfjährigen gehörte, konnte aber noch nicht einmal seinen eigenen Namen schreiben oder auch nur richtig buchstabieren. Im vergangenen Jahr hatte sie William Seaboldt in die erste Klasse aufgenommen, und der war damals schon vierzehn gewesen. Er war nur einen Monat regelmäßig zum Unterricht gegangen, dann war er durchgebrannt. Sie hoffte, dieser arme Findling, den Mrs. Stumway bei sich aufgenommen hatte, würde mehr Ausdauer zeigen. Er machte jedenfalls einen vielversprechenden Eindruck. Doch dann las sie in dem Brief von Mrs. Stumway, daß er zwar ein hübscher Bengel wäre und ein gewinnendes Wesen hätte, aber weder sehr fleißig noch sehr beharrlich sei. Sie musterte ihn, wie er da mitten unter den anderen Kindern aller acht Klassen, die sich für das neue Schuljahr eintrugen, vor ihrem Pult stand, und sie fragte sich, ob sein gutes Aussehen nicht von Nachteil für ihn sein würde. Den verkrüppelten kleinen Bent hatte er offensichtlich bereits in seinen Bann geschlagen und bemühte sich schon jetzt ernsthaft um einige der anderen Jungen, indem er ihnen eine hanebüchene Geschichte über seine Abenteuer als blinder Güterzugpassagier erzählte.
»Charles Cahill«, sagte Miss Wrigley, »würdest du bitte eines der größeren Pulte in die Erstkläßlerreihe rücken? Nicht, daß du uns eine von den kleinen sprengst!«
Sie lächelte ihn an, um ihm die Schande, in der ersten Reihe zu sitzen, leichter zu machen, doch er schien nicht im geringsten verlegen darüber. Ein ungewöhnlicher Junge, ging es ihr durch den Kopf, während sie beobachtete, wie leicht und unbefangen er mit den anderen Kindern umging. Ganz anders, als die meisten dieser Bauernkinder, die so scheu und wortkarg sind, dachte sie. Ich bin gespannt, ob er schnell lernt.
Charles seinerseits war über Miss Wrigley sehr erfreut und auch über die Tatsache, daß er nun ein Zuhause hatte und in der Gemeinde akzeptiert wurde. Als er an diesem Dienstagmorgen mit Douglas hereinspaziert war und sich dem Kreis der Kinder zugesellt hatte, die um das Pult der Lehrerin herumstanden, hatte er eine bissige alte Jungfer erwartet, die ihm mit dem Lineal auf die Finger klopfen würde, wenn er nicht tat, was sie sagte. Statt dessen sah er vor sich eine junge, sanft wirkende Frau mit kurzem braunen Haar, von einer Direktheit, die den Kindern alles Unbehagen nahm, weil sie bei ihr immer wußten, woran sie waren. Wenn sich jemand schlecht vorbereitet hatte, und Miss Wrigley unzufrieden war, dann pflegte sie zu dem betreffenden Kind zu sagen: »Es bedrückt mich, Mary, weil ich das Gefühl habe, dir liegt gar nichts daran zu lernen, wie man ein zivilisierter Mensch wird.« Und das Kind fand es im allgemeinen nur recht und billig, daß Miss Wrigley so empfand.
Charles bewunderte diese Taktik zur Manipulation anderer, so sah er das nämlich, und bemühte sich nach Kräften, sie sich ebenfalls zu eigen zu machen. Er war außerdem, selbst an jenem ersten Tag schon, recht eingenommen von Miss Wrigley selbst. Sie war klein, nicht viel größer als Charles, und hatte einen kompakten, beweglichen Körper, den Charles gern ansah. Ihre Schulkleidung war nichts Besonderes, wirkte zumeist sogar ziemlich trist: braun und dunkelgrün, dazu hin und wieder eine weiße Bluse zur Aufhellung. Doch sie schien
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