Werwelt 01 - Der Findling
ihren schwingenden Rock, als sie zur Gruppe der Mädchen zurücktrippelte, die unter der großen Balsampappel neben der Schaukel standen. Er ertappte sich dabei, daß er etwas vor sich hinmurmelte, und fragte sich, ob er jetzt anfing, Gedichte aufzusagen.
»Ach, Charly«, ertönte eine künstlich piepsende Stimme neben ihm. »Ich hoffe wirklich, du kannst zu meinem Fest kommen.«
Es war Kick Jones, der hochaufgeschossene magere Sechstkläßler, mit dem Charles sich unterhalten hatte, ehe die Welt für ihn erstorben war.
»Sie hatte Parfüm an«, sagte Charles, ohne auf Kicks Bemerkung einzugehen.
»Ja, ja, die Baileys und ihr Packard«, versetzte Kick.
»Sie haben einen Packard?« fragte Charles zerstreut.
»Klar, und Betty hat gesagt, daß sie vielleicht auch einen Chauffeur kriegen«, berichtete Kick wegwerfend. »Mensch, dabei haben die’s gar nicht so dick. Mein Vater sagt, Ed Bailey hat im ganzen Staat Schulden, die er nicht bezahlen kann.«
»Na und wenn schon«, versetzte Charles, während er sich eine Sardine in den Mund stopfte. »Die brauchen kein Geld. Mann, die ist wirklich toll.«
»Mach ihr lieber keine schönen Augen«, riet Kick. »Sonst macht Alfred Kleinholz aus dir. Sie ist sein Mädchen.«
»Ach, wer denkt denn an so was«, erwiderte Charles. »Ich finde einfach, sie ist ein toller Käfer. Wer ist schon scharf auf ’ne Freundin?«
3
In den Tagen vor Halloween half Charles bei einigen Bauern aus der Umgegend, um sich ein paar Dollar zu verdienen, weil er sich für das Fest bei den Baileys ein neues Hemd kaufen wollte. Dann kam, wie ein riesiges Zerrbild der Eleganz, mit der die Baileys am Abend des einunddreißigsten aufwarten würden, das alljährliche Halloween-Fest der Schule, das am Abend des vorhergehenden Mittwoch stattfand. An diesem Mittwoch war die Schule schon mittags aus, weil das Schulzimmer noch geschmückt werden mußte. Orangefarbene und schwarze Luftschlangen wurden aufgehängt, alle Fenster wurden mit schwarzen Katzen beklebt, die Tafeln mit orangefarbenen Hexen bemalt, und von den Deckenlampen ließ man selbstgebastelte Skeletts herabbaumeln. Für das Apfeltauchen mußten Eimer mit Wasser angeschleppt werden, die Bänke mußten in den Keller hinuntergetragen werden, damit für die Ringelspiele Platz war, und schließlich mußte vorn im Zimmer eine kleine Bühne mit Vorhängen aufgebaut werden, damit die Kinder aus der dritten, vierten und fünften Klasse das ‚Geisterstück aufführen konnten, das für diese Gelegenheit ausgesucht worden war.
Kostümzwang bestand nicht mehr, seit bei dem Fest drei Jahre zuvor, als die Lehrerin, die vor Miss Wrigley dagewesen war, auf Kostümierung bestanden hatte, sämtliche Kinder in alten Leintüchern aller Größen und Schattierungen von Vergilbtheit erschienen waren. Selbst der arme kleine Ricci, dessen Familie im verlassenen Holzbau einer Kirche zwei Meilen entfernt lebte, hatte sich in ein Leintuch eingehüllt. Die Wirkung war zwar durchaus gespenstisch gewesen, doch im Lauf des Abends waren sämtliche Leintücher in Fetzen gerissen worden, und die Eltern hatten sich hinterher darüber beschwert, was sie das gekostet hatte. Inzwischen fand man es komisch, in einem Leintuch zu kommen, aber der Witz war schon ein wenig schal geworden, und die wenigsten Familien hatten die Phantasie oder die Lust, eigene Kostüme anzufertigen. Gekaufte Kostüme kamen selbstverständlich gar nicht in Frage.
Das Theaterstück entpuppte sich als eine Farce von Irrungen und Wirrungen, bei der ein Ritter, eine Hexe, ein tolpatschiger König und seine stumme Gemahlin – sie hatte ihren Text vergessen – sowie eine Anzahl von Chargen mit spitzen Hüten mitspielten, geführt von einer lachenden und völlig abgehetzten Miss Wrigley, die Stichwörter gab, diesen von der Bühne herunterzog, jenen hinaufschob und aus der Kulisse die Requisiten herausreichte. Dazwischen spielte sie auf dem Klavier angemessen geisterhafte Musik, während der Hexe das Haar aus Maisseide in die Augen rutschte, dem König die Krone vom Kopf in den Schoß fiel, und der Ritter den Leuten mit seiner Lanze – dem Zeigestab – auf den Kopf schlug. Gerade als es schien, als wollte die Hexe triumphieren, teilweise deshalb, weil sie ihren ganzen Text gekonnt und ihr Kostüm noch am besten zusammengehalten hatte, sprang der Ritter vor und bedrohte sie mit seiner Lanze, eine nicht völlig leere Geste, da er sie Mary Mae Martin – der Hexe – mit erheblicher Wucht ins runde
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