Werwelt 01 - Der Findling
Krallen meines linken Hinterlaufs bleiben in der Spalte hängen, und ich schieße ohne sie davon. Ich spüre nichts, aber jener Teil meines Geistes, der still ist, sagt mir, daß die Wunde später schmerzen wird. Wir sind jetzt den schlimmsten Wirbeln und Strudeln entronnen, und ich strebe mit beinahe geleerten Lungen der Oberfläche zu. Ich fühle, wie die Strömung, die flußabwärts führt, uns vom Wehr fortträgt. Noch einen Augenblick bleibe ich unter Wasser, und als ich dann weit draußen in der raschen Strömung auftauche, konzentriere ich mich scharf auf Charles Cahill und verwandle mich.
Nach Luft schnappend, den Blick zum Ufer gerichtet, hob sich Charles im glatt dahinströmenden Fluß aus dem Wasser, den rothaarigen Jungen lose in der Beuge seines linken Arms. Am Ufer sah er einen wirren Haufen rennender Menschen. Sie schrien und wedelten mit den Armen.
Charles packte den Jungen beim Haar und schleppte ihn mit sich, während er seitlich dem nahen Ufer zuschwamm. Seine Lungen pumpten in hastig keuchenden Stößen. Er hätte es nie für möglich gehalten, daß er überhaupt so schnell atmen konnte. Er spürte Grund unter den Füßen und versuchte, auf die Beine zu kommen, und stürzte. Doch da griffen schon Hände nach ihm, stützten ihn, Menschen schrien ihm die Ohren voll, es war ein Lärm, als explodiere das ganze Wehr, und er dachte, er würde ohnmächtig werden, doch das geschah nicht.
Als er wieder einigermaßen bei Atem und bei Sinnen war, stellte er fest, daß er bäuchlings auf dem Kies am Ufer lag, auf halbem Weg zwischen dem Kraftwerk und der Brücke des Highways. Der rothaarige Junge lag ausgestreckt auf einigen Brettern, und ein muskulös aussehender Mann versuchte, ihn durch künstliche Beatmung am Leben zu halten. Das Heulen einer Sirene näherte sich, Douglas hatte ihm ein Hemd über den kalten Körper geworfen und redete auf ihn ein, doch eine ganze Weile begriff Charles den Sinn seiner Worte nicht. Er schien immer wieder das gleiche zu sagen.
»Warum hast du das getan? Ja, warum hast du das getan? Du hättest umkommen können dabei.«
Charles fühlte sich, als wäre er durch die Mangel gedreht worden. Schmerz flackerte auf wie von Zauberhand entzündet; an Ellbogen, Knien, an Rücken, Stirn, Nase, Brust. Er hatte das Gefühl, als wäre sein Kopf mit Wasser gefüllt, so daß alle Geräusche in ihm Wellen schlugen. Es war, als hätte man ihm einen Eimer über den Kopf gestülpt. Er wälzte sich auf die Seite, um Douglas in das ängstliche Froschgesicht zu blicken, und grinste.
»Ich konnte doch den kleinen Scheißer nicht absaufen lassen, oder?«
Der Krankenwagen brachte Charles und den rothaarigen Jungen, der Wayne Ritter hieß, ins St.-Lukas-Krankenhaus, wo man feststellte, daß Charles, wie später im Republican berichtet wurde, »zahlreiche Blutergüsse und kleinere Verletzungen« davongetragen hatte. Über den kleinen Ritter hieß es, er sei »dank des heroischen Einsatzes seines Spielgefährten einem nassen Grab entrissen worden«. Über diese Fehlbezeichnung lachte Charles, bis ihm seine kleineren Verletzungen weh taten. Der Arzt im St.-Lukas-Krankenhaus hätte gern gewußt, wie Charles zwei Zehennägel an seinem linken Fuße hatte verlieren können, doch Charles konnte ihm nur erwidern, es sei der reinste Hexenkessel gewesen und er wisse nicht einmal, wie er da lebend wieder herausgekommen sei.
Die Funktionäre der Lebensretter-Ortsgruppe, die bekanntgaben, daß sie hiermit beschlossen hätten, Charles ihren Preis des »Helden des Jahres« zuzuerkennen, fanden, es wäre der Story rundum zuträglicher gewesen, wenn die Hauptpersonen des Abenteuers zur gesellschaftlichen Prominenz gehört hätten oder wenigstens nicht ganz so obskurer Herkunft gewesen wären. Charles entpuppte sich als Findling einer sauertöpfischen Mrs. Stumway, die weder Reporter noch Mitglieder der Ortsgruppe in ihr Haus ließ und jeden an der Haustür abfertigte, ohne auch nur das Fliegengitter zu öffnen. Man verkaufte Charles also als den »Großneffen von Mrs. Stumway, die auf ihrem Hof drei Meilen südlich von Beecher lebt«.
Wayne Ritter hatte zwar Familie, doch die war um so peinlicher. Die Mutter eine notorische Säuferin, der Vater ein ehemaliger Kohlenschaufler bei der Eisenbahn, ein Bruder im Gefängnis und daher nicht erreichbar, der andere beim Militär. Diesen letzteren hielt man für einen vielversprechenden Kandidaten für die öffentliche Bühne, bis sich herausstellte, daß er in Fort Sill
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