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Werwelt 01 - Der Findling

Werwelt 01 - Der Findling

Titel: Werwelt 01 - Der Findling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Stallman
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Merkwürdiges passiert, und wir müssen jetzt viel Verständnis zeigen. Sei lieb und freundlich zu diesen Menschen, später werde ich dir den Grund dafür sagen. Und, Charles«, fügte sie hinzu, als sie sich anschickten, den dunklen Flur hinunterzugehen, »bitte vergiß nicht, daß ich diese Menschen sehr gern habe.«
    Charles nickte. Sie traten wieder ins Wohnzimmer, wo der kleine, rundliche Mann neben seinem Sessel stand. Sein Gesicht war noch immer weiß, und der sonst stets lächelnde Mund war ein starrer gerader Strich. Die schlanke Frau saß noch immer halb der Tür zugewandt auf dem Klavierhocker, beide Hände auf den Mund gedrückt, als hätte der Schrei ihn verletzt.
    Charles schritt zu dem Sessel, auf dem er zuvor gesessen hatte. Miss Wrigley ging zum Klavier und ließ sich neben Mrs. Boldhuis auf dem Hocker nieder. Sie legte der schlanken Frau ihren Arm um die Schultern.
    »Ich glaube, wir sind alle die Opfer einer Halluzination geworden«, erklärte Mr. Boldhuis ins Zimmer hinein. »Charles, ich möchte mich für unser befremdliches Verhalten entschuldigen. Vielleicht darf ich dir erklären, was sich hier meiner Ansicht nach abgespielt hat.« Er wandte sein Gesicht, das schon beinahe sein Lächeln wiedergewonnen hatte, seiner Frau und Miss Wrigley zu. »Mit deiner Erlaubnis, Lucille?« Seine Frau nickte, den Blick auf die Tasten des Klaviers gerichtet.
    »Weißt du, Charles, wir hatten zwei Kinder, Victor und Danielle, die bei einem Unfall ums Leben kamen, als der Schulbus, in dem sie saßen, von einer Brücke stürzte. Sie kamen gerade von einem Sonntagsausflug mit der Bibelschule zurück. Das ist jetzt schon mehrere Jahre her, aber wir empfinden den Verlust noch immer sehr schmerzlich, und ich glaube gerade bei Anlässen wie diesen, wo die Familie« – er hielt inne und schluckte – »zusammen ist.«
    Charles hörte die Worte, während er versuchte, in mehreren Dimensionen gleichzeitig zu denken, um seine äußere Gelassenheit zu bewahren, um zu begreifen, was geschehen war, damit ähnliches in der Zukunft vermieden werden konnte, und um zum Zwecke seines eigenen Überlebens die Gründe für diese befremdliche Verwandlung in ein unbekanntes Wesen zu entdecken.
    Auch ich höre zu, näher der Oberfläche als Charles behaglich ist, voller Verwunderung und Neugier über die Verwandlung, die ich in einem Augenblick der Ekstase vollzogen habe. Es ist wahr, daß ich in ein Wesen hineingeschlüpft bin, auf das ich mich nicht konzentriert hatte, in ein Wesen, von dem mir bis dahin selbst der Name unbekannt war, und es liegt auf der Hand, daß die Gestalt dieses Wesens mir von den schmerzlichen Gedanken dieser beiden Fremden aufgedrängt worden ist, vielleicht sogar von der Atmosphäre dieses Hauses. Ich finde es interessant, festzustellen, daß meine Verwandlung also von Kräften beeinflußt wurde, die außerhalb meiner selbst lagen; Charles jedoch wird eine Offenbarung anderer Art zuteil. Gerade in jenem Augenblick, als er sich so wohl und glücklich fühlte wie selten zuvor in seinem Leben, war Charles plötzlich verdrängt worden, war seine Persönlichkeit auf eine Weise usurpiert worden, die völlig jenseits seiner Kontrolle lag. Ihm wurde jetzt klar, daß er immer, ganz gleich, wie glücklich und wie sicher er sich fühlte, in tödlicher Gefahr schwebte. Es war für ihn eine Vorahnung auf seine eigene Sterblichkeit, weit bitterer und härter als der Tod eines geliebten Menschen oder der beinahe tödliche Unfall, der im allgemeinen das Wissen um die Zerbrechlichkeit des Lebens weckt. Überschwemmt von einer Flut von Angst und Zorn, die ihn von Kopf bis Fuß schüttelte, erkannte Charles, daß es ihm jederzeit geschehen konnte, nicht nur für eine Weile auf die Seite gestellt zu werden, sondern für immer vernichtet zu werden, wenn sich Bedingungen ergaben, die sein Verschwinden erforderlich machten. Verstärkt wurden sein Zorn und seine Angst noch durch das Wissen, daß er einzigartig sein mußte, das einzige Geschöpf auf der ganzen Welt, das so gemacht und so bedroht war, daß das geringste assoziative Versehen oder eine Laune jener unterschwellig verborgenen Macht, deren menschliche Erscheinungsform er war, seine Persönlichkeit auslöschen würde, als hätte es sie nie gegeben. In diesem Zustand plötzlichen Begreifens saß er da und bemühte sich, die traurige Geschichte der Kinder der Familie Boldhuis aufzunehmen, die drei Jahre zuvor durch einen ebensolchen grund- und sinnlosen Akt des Universums

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