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Werwelt 01 - Der Findling

Werwelt 01 - Der Findling

Titel: Werwelt 01 - Der Findling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Stallman
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umgekommen waren.
    Der Vorfall schien auf sein Verhalten kaum eine Wirkung zu haben, dachte Mr. Boldhuis, während er im Schein der Deckenbeleuchtung, die er eingeschaltet hatte, das Gesicht des blonden Jungen betrachtete. Und doch machte er den Eindruck eines ausgesprochen sensiblen jungen Menschen, der einen solchen Verlust nachfühlen konnte. Aber Charles hatte ja auch nicht gesehen, tatsächlich gesehen, wie da plötzlich ein geliebter Mensch in Erscheinung getreten war, wunderbar lebendig … Ach, Vic, dachte er, löschte das Bild aus und schloß eine Sekunde lang seine Augen ganz fest. Dann blickte er wieder auf den hochaufgeschossenen, ernsthaften Jungen. Mr. Boldhuis konnte den genauen Grund für den veränderten Ausdruck, den er jetzt auf Charles’ Zügen erblickte, nicht ahnen und konnte auch nicht wissen, daß diese Wandlung beinahe gänzlich durch Charles’ innere Entschlossenheit hervorgerufen wurde, das eigene Überleben zu sichern, und nicht durch Mitgefühl mit den Opfern der sinnlosen Grausamkeit dieser Welt. Charles schüttelte bekümmert den Kopf und schloß ebenfalls einen Moment lang die Augen, ein Verhalten, das Mr. Boldhuis für eine sehr feinfühlige Reaktion hielt, so daß er warme Zuneigung zu dem Jungen empfand und drauf und dran war, ihm die Hand auf die Schulter zu legen.
    »Nein, es war Wirklichkeit.« Die Stimme von Lucille Boldhuis hob sich scharf und klar aus dem ruhigen Gespräch, das sie mit Miss Wrigley führte. Victor Boldhuis drehte sich um, bereit, die Rolle zu übernehmen, die er in diesen letzten drei Jahren viele Male gespielt hatte. Doch Lucilles Augen begegneten seinem Blick, und ihre Miene befahl ihm zu schweigen, sagte ihm, daß diesmal Mitgefühl und stützende Kraft fehl am Platze waren. Er war tief betroffen, als er den Blick ihrer Augen sah, in ihrer Stimme jenen schmerzlichen Unterton von Hoffnung hörte, die zu ersticken und durch etwas anderes zu ersetzen, er sich so lange bemüht hatte.
    »Hast du bemerkt, wie er uns angesehen hat?« fragte Lucille mit lebendiger werdender Stimme. »Er wollte zu uns. Ach, Jessie«, fuhr sie glücklich fort, »sie sind irgendwo noch am Leben. Ich weiß es. Ganz bestimmt.«
    Über Lucilles Schulter hinweg warf Miss Wrigley Mr. Boldhuis einen Blick zu, der seinerseits über Charles’ Schulter hinweg Miss Wrigley ansah.
    »Wir müssen doch aber zugeben –«, begann Mr. Boldhuis, doch seine Frau fiel ihm ins Wort.
    »Ich weiß, Victor. Ich weiß schon. Ich fange jetzt nicht an, mich lächerlich zu machen«, erklärte sie mit leuchtenden Augen. »Es ist genug«, fügte sie rätselhaft hinzu.
    Sie stand vom Hocker auf. »Ich hole den Likör«, bemerkte sie und eilte aus dem Zimmer, während die anderen ihr mit unterschiedlichen Graden von Sorge nachblickten.
    Nach einem langen Schweigen und nachdem die kleinen Likörgläschen herumgereicht waren, sprachen sie von der Schule, von Charles’ rapiden Fortschritten, die wahrhaftig beinahe phänomenal zu nennen waren, und Charles mußte von seinem früheren Leben erzählen, wobei ihm bewußt wurde, daß er sich genau erinnern mußte, was für Geschichten er Miss Wrigley erzählt hatte, wenn er nicht Gefahr laufen wollte, sich zu widersprechen. Er merkte, daß Mrs. Boldhuis ihn unter halbgeschlossenen Lidern hervor aufmerksam beobachtete, während sie an dem grünen Likör nippte, und fühlte sich geschmeichelt durch ihre Aufmerksamkeit, bis ihm klar wurde, daß sie wohl wieder jene Vision im dämmrigen Flur sah und sich fragte, inwiefern da ein Zusammenhang zu ihm bestehen könnte.
    »Jessie hat uns erzählt, daß du nach Weihnachten schon in die fünfte Klasse kommst«, bemerkte Mr. Boldhuis. »Wenn du so weitermachst, bist du im nächsten Jahr vielleicht schon in der High School. Hast du dir schon überlegt, ob du dir den Zweig aussuchen solltest, der sich am College-Curriculum orientiert?«
    Charles starrte ihn verständnislos an. »Am College was?«
    Die Erwachsenen lachten plötzlich, und Mr. Boldhuis sagte gütig: »Wir lachen dich nicht aus, Charles. Aber weißt du, du bist ein so wortgewandter und belesener junger Mann, daß ich völlig vergessen habe, daß ich mich hier nicht mit einem Siebzehn- oder Achtzehnjährigen unterhalte. Da ist gewissermaßen einfach mein Vokabular mit mir durchgegangen.« Er lächelte Charles so freundlich an, daß Charles lachte.
    »Ich glaube, ich vergesse selbst manchmal, wie alt ich eigentlich bin«, versetzte Charles. »Mit Strolch und Sally hab’

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