Werwelt 02 - Der Gefangene
während sie immer wieder die gleichen Dinge sagen und ihre Einfallslosigkeit meine Sinne mit unendlicher Langeweile erfüllt. Ich versuche, mich damit zu belustigen, daß ich ihre wahrnehmbaren Merkmale in Kategorien einordne, ohne den Kopf zu heben, ohne sie mit meinen Augen zu sehen. Da hätten wir zunächst einmal ein Ehepaar. Die beiden riechen nach Pfannkuchen und Kuhmist. Kinder haben sie auch dabei, deren Stimmen eine Oktave höher liegen als die der Erwachsenen. Sie sprechen die schlampige, nuschelnde Sprache, die hier unter den Leuten üblich ist. Ich höre die gewohnten Flüche, die undeutlich ausgesprochenen Wörter, die halb verschluckt werden, die üblichen Ausrufe. Er trägt eine abgewetzte Arbeitshose, sie ein geblümtes Baumwollkleid. Beide haben sie Arbeitsschuhe an. Einheimische Bauern, die sich eine Stunde fortgestohlen haben, um mich zu begaffen. Das ist Kategorie I.
Unter Kategorie II fallen die Leute aus der Stadt, die nach Zigaretten riechen und manchmal nach Bier oder härterem Alkohol. Ihre Schuhe sind sauberer und ihre Kleider auch. Sie sprechen einen härteren, nasaleren Dialekt, gebrauchen weniger Zusammenziehungen, sind bilderreicher in ihrer Sprache. Häufig tragen die Frauen Parfüm, das einen metallischen Geruch hat.
Die Leute der III. Kategorie gehören ganz offensichtlich in eine höhere Schicht. Da riecht man Seife und Eau de Cologne, manchmal sogar Leder. Die Sprache ist gesuchter und genauer. Doch das Spiel wird auf die Dauer langweilig, und ich ziehe mich hinter die Schleier eines leichten Dämmerschlafs zurück, wo ich in Ruhe meinen eigenen Phantasien nachhängen kann. Nur einen winzigen Teil meines Wahrnehmungsvermögens wende ich nach außen, um nicht von einer plötzlichen Gefahr überrascht zu werden.
Einmal wirft ein Kind mit Steinen auf den Käfig und brüllt mir zu, daß ich endlich aufwachen soll. Das laute Scheppern läßt mich aufschrecken, so daß ich flüchtig den Kopf hebe, und die Leute auf dem Heuwagen rufen »Oh« und »Ah«. Doch ich enttäusche sie, indem ich augenblicklich meinen Kopf wieder verberge. Keine zwei oder drei Sekunden später jedoch werde ich ernstlich aus meinem Dämmerschlaf gerissen. Da hat jemand geschrien. Und die Stimme rührt etwas in mir auf. Ich kenne die Stimme.
»Er ist es!« schreit die Stimme. »Er ist es!«
Immer wieder schreit die Stimme, die sich irgendwo auf der anderen Seite des Heuwagens befindet, das gleiche. Ich schicke meine Sinne aus, kann aber nur die verwirrenden Konturen einer Menschenmenge ausmachen, die sich am Fuß der Leiter zum Heuwagen drängt. Ohne den Kopf zu heben, bemühe ich mich, das, was mich da anrührt, genauer ins Bild zu bekommen. Die Stimme bringt etwas zum Schwingen, das tief, tief unten in mir verborgen liegt, etwas Kleines, aber Machtvolles. Ich greife danach, und aus der Erinnerung steigt ein hochgewachsener kantiger Schatten empor, ein paar Arme, die mich mit Wärme umschließen. Tante Cat.
Wieder ist es Nacht. Das Leben wird allmählich so schwierig, wie ich es mir nie hätte träumen lassen. Ich soll anscheinend nicht nur von innen gequält und geplagt werden, sondern auch von außen, bis es mir endlich gut genug geht, dieser Situation zu entfliehen. Barry läßt sich nicht zum Schweigen bringen, vielleicht weil er weiß, daß ich ihn nicht vernichten kann, ohne mir selbst entsetzlichen Schmerz zuzufügen. Roberts Geist – wenn man es so ausdrücken kann – piesackt mich mit seinen sentimentalen Ausbrüchen und dem albernen Schmerz über die Trennung von Tante Cat, die ihn wahrscheinlich mir nichts dir nichts töten würde, wenn er wieder in die Welt kommen könnte. Die alte Frau schließlich, die Mutter des Fettwansts, macht mich ganz verrückt, weil sie sich dauernd irgendwo innerhalb meines Wahrnehmungsbereichs aufhält, ständig auf ein Zeichen von Intelligenz lauert, auf einen Beweis, mit dem sie die anderen überzeugen kann. Ich glaube, sie schläft und ißt überhaupt nicht mehr. Entweder steht sie unten an der Hintertür, direkt hinter dem Fliegengitter, oder aber sie ist oben am Fenster oder an der Tür zum Geräteschuppen unter den Ulmen. Immer ist sie irgendwo und wartet. Wie soll ich mich konzentrieren und mir eine anständige Mahlzeit verschaffen, wenn ich ständig befürchten muß, daß sie das Unglaubliche sieht; daß sie beobachtet, wie ein Kaninchen freiwillig auf den Lastwagen hinaufspringt, damit ich es fressen kann! Aus reiner Notwendigkeit habe ich die Hälfte des
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