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Werwelt 02 - Der Gefangene

Werwelt 02 - Der Gefangene

Titel: Werwelt 02 - Der Gefangene Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Stallman
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ist denn eigentlich der Grund für dieses Verhör?«
    »Ach, Barry!«
    Doch er war jetzt verletzt und zornig und suchte nur nach einem Vorwand, seiner Wut Luft zu machen, die jetzt aus ihm hervorbrechen würde, ganz gleich, was er tat.
    »Was ist denn schon dabei, wenn ich nachts aufstehe, um nachzudenken? Heiliger Himmel, ich bin Schriftsteller. Irgendwann muß ich schließlich denken. Und am Tag kann man hier weiß Gott nicht nachdenken, bei dem ständigen Lärm. Ich hab ja nicht einmal einen richtigen Arbeitsplatz. Ich kann mich höchstens ins hintere Schlafzimmer zurückziehen, und das ist das heißeste Zimmer im ganzen Haus.«
    Er hörte die Tirade aus sich hervorbrechen, als stünde er neben sich, und ein unbeteiligter Teil seiner selbst fragte, was, zum Teufel, er da eigentlich tat. Die Erinnerung an ihren geschiedenen Mann hatte schließlich die Wut in ihm ausgelöst. Sie hatte die Einzelheiten dieses ›Unfalls‹ nie erfahren, von dessen Folgen er sich auf so geheimnisvolle Weise wieder erholt hatte. Er hatte es nie gewagt, ihr auch nur eine Andeutung darüber zu machen, hatte es Bill überlassen, sie aufzuklären, wenn er wollte. Doch der hatte es nicht getan, hatte Barry nur jedesmal, wenn er ihm begegnet war, mit scharfem Blick angestarrt, so als sähe er ihn zum ersten Mal und müßte sich sein Gesicht ganz von neuem einprägen. Nein, Bill hatte auch nie etwas verraten. Sie hätten beide zuviel getrunken gehabt, erklärten sie, beinahe so, als hätten sie es vereinbart, und Bill wäre ausgestiegen, weil er mal mußte, während Barry im Wagen eingeschlafen wäre. Sie hatten beide erst gemerkt, daß sie auf dem Bahnübergang standen, als der Zug in den Wagen hineingerast war. Barry behauptete, er wäre am folgenden Morgen von einem Autofahrer aufgelesen worden, nachdem er sich mit schweren Verletzungen ins Gras am Straßenrand geschleppt hatte. Man hätte ihn in eine Privatklinik gebracht, erklärte er später. Bill, dem bewußt war, daß er des versuchten Mordes hätte angeklagt werden können, behauptete, er hätte geglaubt, der andere Mann wäre tot; er hätte dennoch die halbe Nacht lang gesucht, die Leiche aber nicht finden können. Bei diesen Worten hatte er Barry taxierend angesehen, hatte aber an seiner Version festgehalten. Und später beim Anwalt, als die Scheidung besprochen wurde, wiederholte er die ganze Geschichte praktisch wortwörtlich. Er sah ja auch wirklich aus wie ein völlig harmloser Bursche, dachte Barry, groß und massig, mit kantigem Gesicht, immer noch der aus dem Leim gegangene Palastwächter, den er in ihm gesehen hatte, als er ihm an jenem ersten Abend vor der Haustür begegnet war.
    Doch jetzt hatte er sich Renee gegenüber zu einem Wutanfall hinreißen lassen, und sie war aus der Küche gelaufen.
    Augenblicklich tat es ihm leid. Immer tat es ihm augenblicklich leid. Und sie pflegte ihren Groll zu hegen, bis sie im Vorteil war, um ihm dann kräftig eine vor den Bug zu schießen. Nach dem Motto, aus herrlich mach dämlich. Barry grinste unwillkürlich. Das war der Damon-Runyon-Jargon, der Witz der New Yorker East Side. Gott, wenn er nur das Geld gehabt hätte, an der großen Schriftsteller- und Journalistentagung am fünften dieses Monats teilzunehmen! Was für Kontakte hätte er da knüpfen können! Aber der Esquire würde auf keinen Fall die Spesen bezahlen; er hatte ja keinen Namen, und wahrscheinlich war so etwas gar nicht Usus.
    Er spürte einen ersten Anflug von Kopfschmerzen, und als er aufblickte, sah er, daß die dunkle Leere der Fenster sich mit dem blassen Licht des anbrechenden Tages gefüllt hatte. Draußen stimmte schon eine Feldlerche ihr Morgenlied an, und ein paar Spottdrosseln zankten sich mit kräftigem Gezwitscher. Die Tür zu Minas Zimmer stand offen, als er vorüberkam. Er blieb stehen, weil er beinahe erwartete, sie wach zu sehen, aber Kinder fielen in Schlaf wie Fische in einen See, brauchten ihm nicht schwitzend nachzujagen. Sie schlief in der gleichen Haltung wie ihre Mutter, einen Arm über der Stirn, das schwarze Haar auf dem Kopfkissen ausgebreitet. Er trat an ihr Bett, betrachtete die langsame regelmäßige Bewegung ihrer Lippen und sah, wie ein Augenwinkel zuckte. Einen Moment lang glaubte er, sie spiele Theater, doch dann erkannte er, daß sie träumte, und ihre Augen auf die gleiche Art zuckten wie bei Hunden die Beine, wenn sie im Traum einem Kaninchen nachhetzen. Eine verschwommene Erinnerung an ein Kaninchen drängte sich ihm auf, er sah

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