Werwelt 03 - Der Nachkomme
wirklich zu weit.
»Natürlich, Lilly«, sagte er und drückte sie an sich. »N a türlich. Du hast irgendwo ein Zuhause und richtige Eltern, vielleicht auch Brüder und Schwestern, vielleicht sogar einen Mann.«
Er brach ab und senkte den Blick.
Sie legte sich plötzlich nieder und drückte ihr Gesicht wieder in das Kissen. Zerstreut rieb sie mit der Hand auf dem Kissen hin und her, und er sah, daß ihr jetzt etwas a n deres durch den Kopf ging.
»Trotzdem hilft das nichts«, sagte sie. »Wie kann ich wirklich sein, wenn ich nicht existiere, solange sie exi s tiert?«
»Ach, schau mal, vielleicht ist es einfach so, daß sie – äh – irgendwie manchmal über dich kommt – so ähnlich, als zögst du einen Mantel an oder so was. Vielleicht bist das in Wirklichkeit immer du. Du weißt schon, so wie bei diesen Geschöpfen, die man Werwölfe nennt oder so.«
Sie sah zu ihm auf und ein Lächeln entzündete sich in ihren Augen. »Ich lebe jetzt«, sagte sie und richtete sich auf, um sein Gesicht in ihre Hände zu nehmen. »Ich lebe, so wie ich dir immer sage, daß du leben sollst.«
»Richtig, wir leben, und was morgen geschieht, lassen wir einfach auf uns zukommen, ja?«
Er streckte sich neben ihr aus und küßte sie leicht.
»Ich werd ’ jetzt nicht mehr so reden, Bo«, flüsterte sie ihm ins Ohr, während sie ihn an sich zog. »Der heutige Abend gehört uns, und morgen ist Weihnachten, und wir gehen zu Dan und Polly und essen Truthahn und Frücht e brot und machen unsere Geschenke auf.« Sie lehnte ihren Körper an den seinen. »Hast du was dagegen, wenn wir ’ s nochmal tun?«
Bo hatte gar nichts dagegen.
Dan Carrothers war einsfünfundsechzig groß, genau zwei Zentimeter größer als Polly, wie er lachend sagte.
Zwei Zentimeter größer und fünfzig mehr an Umfang.
Er war der einzig völlig kahlköpfige Mann, der Bo je begegnet war, und er trug einen kurzen Backenbart, der grau und schwarz gesprenkelt war. Er sah ein bißchen aus wie ein alter Schiffskapitän. Er arbeitete in derselben Dr u ckerei wie Lilly. Er hatte ihr die Stellung dort besorgt, e r zählte er Bo, während sie vor dem offenen Kamin saßen und Walnüsse knackten. Doch sie hatte sich schon in den ersten Monaten so gut gemacht, daß sie gleich zweimal befördert worden war. Auf seinem Gesicht lag ein Lächeln , wenn er von Lilly sprach oder von Polly, seiner Frau. Er mochte seine Frauen, wie er sagte.
»Und beide kochen hervorragend«, erklärte er, während er zwei Walnüsse in seiner Hand aufbrach.
»Ja, daß Lilly gut kocht weiß ich«, sagte Bo. »Sie hat mich wieder gesund gepflegt. Obwohl man wahrscheinlich von Joghurt und Weizenbrei nicht auf ihre wahren Künste schließen kann.«
Eine Atmosphäre der Geborgenheit wohnt in diesem Haus, so als würde jedem, der es betrat, Schutz gewährt und auch freundliche Aufnahme, wie Bo entdeckte. Weder Dan noch seine herzlich wirkende Frau hatten ihm irgen d welche Fragen darüber gestellt, woher er kam oder wer er wirklich war. Sie akzeptierten ihn, weil er Lillys Freund war, und Bo war froh, nicht gezwungen zu sein, Fragen über seine Familie und sein Leben ausweichen zu müssen. Sie ließen ihn das Gespräch bestimmen, sorgten dafür, daß er sich wohl fühlte, indem sie sich mit ihm unterhielten, aber keine Verhöre anstellten.
Polly kam herein, Mehl auf der Schürze und ein Lächeln auf dem geröteten Gesicht. Für eine Frau von sechzig Ja h ren, fand Bo, wirkte sie äußerst lebendig. Ihr Haar war schneeweiß und zu vielen Zöpfen geflochten, so daß sie aussah, wie ein weißhaariges kleines Mädchen. Gewiß, sie hatte Falten im Gesicht, doch es waren Lachfältchen, nicht die Mißmutslinien, die ein Gesicht alt und verbraucht machten.
»Seid ihr Männer schon fertig mit den Nüssen?«
Dan reichte ihr die Schale.
»Wie wär ’ s mit einem Eierpunsch, mein kleiner Bl u menkohl?«
Polly blieb stehen und legte ihre bemehlte Hand auf Dans glänzenden Kopf.
»Ich hoffe, Sie finden den Humor dieses Mannes nicht allzu befremdlich«, sagte sie zu Bo. »Er denkt sich immer die reizendsten Kosenamen aus, und zur Zeit sind wir bei den Gemüsen.« Sie tätschelte ihm den Kopf, so daß mehl i ge Abdrücke auf seiner Glatze zurückblieben. »Blume n kohl! Du alte Schwarzwurzel.«
Bo sah Lilly unter der Tür zum Eßzimmer stehen. Auch sie trug eine Schürze, das schwarze Haar umrahmte das Gesicht in kleinen Locken. Ihre Blicke fanden sich, und sie lächelten sich an. Bo verspürte ein
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