Werwolf-Spuk
In nordwestliche Richtung waren sie gefahren, bis sie dieses große Areal erreicht hatten. Man konnte Schottland nicht unbedingt als waldreich ansehen. Da gab es mehr freie Flächen, vor allen Dingen im Norden, wo manchmal taigaartige Verhältnisse herrschten, die man auch in Norwegen vorfand. In der Nähe von Dundee gab es noch Wald. Hier wurde es auch durch das Seeklima nicht so kalt.
Laub- und Nadelbäume ragten in die Höhe. Laubbäume verloren im Herbst ihr grünes Kleid, nicht jedoch die Tannen, Fichten oder Kiefern. Sie bildeten nach wie vor einen natürlichen Wall um die Lichtung herum, auf der die Hütte stand.
Dieser Flecken Erde sah nicht so aus, als wäre er von der Natur geschaffen worden. Hier hatten Menschen Hand angelegt und gerodet. Auf dem Boden waren erste Pflanzen wieder dabei, ins Freie zu kriechen, um so etwas wie ein Unterholz zu bilden, doch die Chance würde man ihnen wohl kaum lassen.
Maxine Wells wollte nicht mehr sitzen und stand auf. Sie musste sich bewegen und ihre Glieder geschmeidig halten, auch wenn sie das nur innerhalb der offenen Hütte schaffte.
Ob sie beobachtet wurde, sah sie nicht, jedenfalls griff niemand ein, als sie auf und ab ging. Man ließ sie in Ruhe, denn man war überzeugt, dass sie nicht fliehen konnte.
Neben dem offenen Eingang blieb sie stehen. Ihr Blick glitt nach vorn zum Rand der Lichtung, der nur ein paar lange Schritte entfernt lag. Sie sah dort nichts, aber sie hörte die Männer, die sich im Wald versteckt hielten. Wahrscheinlich zielten sie sogar auf sie, denn als Jäger waren sie bewaffnet.
Auf sie wurde nicht geschossen, und sie stellte sich so hin, dass sie gegen den Himmel schauen konnte. Maxine dachte daran, dass Richard Lester vom Mond gesprochen hatte, der in der folgenden Nacht als voller Kreis am Himmel stehen würde.
Sie legte den Kopf zurück und schaute hoch.
Man konnte noch nicht von einem Eindunkeln sprechen oder vom Heranschleichen der Dämmerung, aber der Himmel sah schon anders aus als am Mittag. Er war etwas trüber geworden. Deshalb trat auch der kreisrunde Mond hervor. Noch war sein Licht blass, aber das würde sich ändern, wenn die Zeit fortgeschritten war.
Trotz der Warnungen dachte sie an Flucht. Der Wald war dicht. Sie würde sich verstecken können, und die andere Seite würde große Mühe haben, sie zu finden.
Sollte sie? Sollte sie nicht?
Vor ihr erklang ein Lachen. Lester musste zwischen den Bäumen in guter Deckung stehen. Er schien ihre Gedanken erraten zu haben, denn er sagte: »Versuche es nur, Maxine. Los, willst du nicht fliehen? Wir sind Spezialisten im Abknallen von Hasen und Füchsen. Was meinst du, wie schnell wir einen Menschen schaffen?«
»Ich weiß.«
»Dann bleib schön in der Hütte.«
»Ich hatte auch nicht vor, die Flucht zu versuchen. Ich wollte nur in den Himmel schauen und mir den Mond ansehen. Das ist ja nicht verboten – oder?«
»Bestimmt nicht, denn der Mond wird noch in der nahen Zukunft eine große Rolle spielen.«
»Für Sie?«
»Nein, für uns alle. Auch du wirst seinen Folgen nicht ausweichen können.«
Maxine hatte verstanden. Sie sah eine Bewegung zwischen den Bäumen und rechnete damit, dass Lester sein Versteck verlassen würde, aber da irrte sie sich.
Den Gedanken an Flucht hatte sie verbannt. Die Männer wussten genau, was sie taten. Sie kümmerten sich um sich, aber auch um ihre Gefangene, die sich trotz dieser einsamen Gegend wie auf dem Präsentierteller vorkam.
Sie trat wieder zurück und damit tiefer in die Hütte hinein. Auf keinen Fall wollte sie den vier Männern ein Schauspiel bieten und ihnen vor allen Dingen nicht ihre Angst zeigen, die immer stärker wurde. Es war dieses bohrende Gefühl in ihrer Brust, das sich von Sekunde zu Sekunde stärker ausbreitete, denn wenn sie näher über sich nachdachte, merkte sie, wie gering ihre Chancen waren.
Sie schaute auch auf die Reste des Handys. Die einzige Verbindung zur Außenwelt war dahin, und sie merkte jetzt, wie abhängig die Menschen bereits von diesen kleinen Apparaten waren.
Einmal ging sie um den Tisch herum. Es war kaum vorstellbar, dass sich auf ihm mal Grillwürste oder leckere Steaks verteilt hatten und Menschen um ihn herum gesessen hatten, die gegessen und getrunken hatten und fröhlich gewesen waren. Diese Grillhütte war jetzt zu einem Ort des Todes geworden, der für ein besonderes Sterben sorgte.
Kam die Dämmerung schnell oder langsam? Maxine hatte eher den Eindruck, dass sie schnell kam. Da war der
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