Werwolf-Spuk
ihr jedoch nicht gab. Oder nicht so klar, als dass sie sich etwas darunter hätte vorstellen können.
»Wichtig ist für dich die Dunkelheit, Frau Doktor. Aber auch schon das Herankommen der Dämmerung. Da wird sich einiges verändern. Da werden die Tiere des Waldes erwachen, und sie werden dich hier in der Hütte besuchen, das verspreche ich dir. Sonst hast du sie in deiner Praxis, aber hier laufen sie in der freien Wildbahn.«
»Ich liebe Tiere.«
Das Lachen des Mannes störte sie. Es klang so kindisch und überzogen. »Aber nicht diese«, schrie er sie an.
»Sprechen Sie von Wölfen?«
Das Gesicht unter den aschgrauen Haaren erstarrte. »Gut geraten, Frau Doktor.«
»Vielleicht auch nicht.«
»Wieso nicht?«
»Noch in der letzten Nacht hatte ich es mit Wölfen zu tun und mit einer fast nackten Frau.«
In Lester’s Gesicht kam wieder Leben. Diesmal aber staunte er die Frau nur an. »Du hast sie gesehen?«
»Ja. Sie war bis auf ein Höschen fast nackt. Sie hatte schwarzes Haar und wurde von zwei Wölfen begleitet. Ich weiß nicht, was sie von mir wollte, aber ihre Tiere waren nicht krank, das habe ich mit einem Blick gesehen.«
Lester wusste nicht so recht, was er sagen sollte. Er schluckte, suchte nach Worten und fragte dann: »Kennst du den Namen?«
»Nein, den hat sie mir nicht gesagt.«
»Dann ist es gut.«
»Wieso? Ist das wichtig?«
»Sie ist eine Königin«, flüsterte er. »Für uns ist sie die Königin der Werwölfe. Sie ist Mensch und Wolf zugleich. Sie ist das, was wir noch werden wollen.«
»Sie wollen zu einem Werwolf werden?«
»Ja, heute Nacht. Es wird bald dämmern. Dann wirst du auch den Mond sehen können. Er wird genau hier über der Lichtung stehen, und wir werden uns in seinem Schein baden, das kann ich dir versprechen. Du wirst zunächst nur eine Zuschauerin sein, doch wenn es so weit ist, werden wir dich holen, Maxine. Du wirst eine von uns werden, und du wirst dich uns gegenüber nicht wehren können. Du glaubst nicht, wie ich mich darauf freue.« Er drohte ihr jetzt mit dem Finger. »Und lass dir eines gesagt sein. Auch wenn wir dich nicht gefesselt haben, eine Flucht ist trotzdem nicht möglich, denn wir haben unsere Augen überall.« Es waren seine letzten Worte. Danach machte er scharf kehrt, verließ die an den Seiten offene Hütte und ging zu seinen Freunden.
Maxine Wells blieb zurück und fragte sich, ob sie das alles nur geträumt hatte. Das war nicht das echte Leben. Das war nur eine Geschichte. Nicht mehr und nicht weniger, und es war für einen normalen Menschen einfach nicht zu begreifen.
Nur wollte sie sich darüber nicht den Kopf zerbrechen, denn sie hatte genug erlebt, was jemand, der nicht mit der Sache zu tun hatte, nur schwer nachvollziehen konnte.
Wenn sie an Carlotta dachte, war das schon wie ein Wunder, dass es diese Person überhaupt gab. Sie erinnerte sich auch an andere Fälle. An die Voodoo-Gräfin oder an ihre Schwester, aber auch an Madame Mystique, die Macht über normale Tiere besaß.
Wenn sie das alles zusammenzählte, dann kam ihr diese neue Lage gar nicht mal so unnormal vor. Bei ihrer Schwester hatte es monströse Ratten gegeben, warum sollten nicht auch Werwölfe existieren? Mit John Sinclair hatte sie schon mal über dieses Thema gesprochen. Er war der Ansicht, dass es alles auf der Welt gab, jedes Phänomen, solange man nicht das Gegenteil bewies.
Damit lag er wieder richtig, und auch die Tierärztin hatte sich mit dem Gedanken angefreundet.
Aber wo steckte er?
Es war wirklich nicht schwer, eine Antwort auf die Frage zu geben. Den Flughafen hatte er sicherlich verlassen. Er würde sich bereits in ihrem Haus und bei Carlotta aufhalten, und beide würden frustriert sein. Während der Fahrt hatte Lester telefoniert. Zwar hatte Maxine nicht alles verstanden, aber sie wusste schon, dass er das Gespräch mit einem ihrer Freunde geführt hatte.
Er hatte mit ihr nicht darüber geredet, und er würde John auch keinen Tipp gegeben haben. So stellte sich die Frage, wie er sie hier finden sollte.
Sie wollte nicht weiter darüber nachdenken, denn eine Antwort fand sie nicht. Ihr blieb die Neugierde, die Spannung, die Hoffnung – und auch die Angst.
Niemand kümmerte sich um sie. Auch die vier Männer sah sie nicht. Dafür hörte sie hin und wieder ihre Stimmen, aber auch die klangen nicht so, als würden sie sich in der Nähe der Hütte herumtreiben. Sie waren wohl tiefer im Wald verschwunden.
Das Gebiet lag nicht weit von Dundee entfernt.
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