Wesen der Nacht
Wolken, die der Wind vor sich her trieb.
»W as sind das für Leute, zu denen wir fahren?«, fragte ich, nachdem wir ein paar Minuten unterwegs waren.
»E ine Reisegruppe, die vor ein paar Tagen nach einer Rundreise hier angekommen ist. Oggie von der Tankstelle hat mir den Tipp gegeben. Er ist im Pub auf sie gestoßen und glaubt, dass sie tatsächlich etwas gesehen haben könnten.«
»U nd wo fahren wir hin?«
»Z um Loch Carron. Sie haben dort in der Nähe ein Ferienhaus.«
Mehr gab es für den Moment nicht zu sagen, und da mir nicht der Sinn nach einer Plauderei stand, wandte ich mich wieder der Landschaft zu, die vor dem Fenster an uns vorbeirauschte. Tatsächlich gelang es mir, meine aufgewühlten Gedanken für eine Weile zum Schweigen zu bringen und einfach nur die Umgebung in mich aufzunehmen.
Die Straße war eng und kurvig, an vielen Stellen ging es steil bergauf, nur um ein paar Hundert Meter später wieder ebenso steil nach unten zu führen. Wo eben noch ein Meer aus Heidekrautbüschen gewesen war, wurden sie ein Stück weiter von hohen Felswänden und kurz darauf von kleinen Mischwäldern abgelöst. Die meiste Zeit über war die Straße einspurig, und mehr als einmal musste Derek links ranfahren, um ein entgegenkommendes Auto vorbeizulassen. Manchmal hatten wir Glück und es gab kleine Ausweichbuchten, an einigen Stellen allerdings blieb uns keine Wahl, als in den Straßengraben auszuweichen. Nach einer kurzen zweispurigen Strecke, die an der Bahnlinie nach Inverness entlang führte, wurde die Straße wieder enger und führte schließlich einspurig durch einen in einen Berg geschlagenen Tunnel. Derek bremste nicht einmal, als er den Wagen in die Dunkelheit und kurz darauf auf der anderen Seite wieder herauslenkte. Zu unserer Linken lag das Ufer des Loch Carron. Die Wolken spiegelten sich auf der stillen Oberfläche und zeichneten ein Muster aus Licht und Schatten auf das dunkelgrüne Wasser.
Kurze Zeit später erreichten wir den gleichnamigen Ort. Die Häuser zogen sich am Ufer des Sees entlang, einen Hang hinauf. »W o ist das Haus?«
»E in Stück außerhalb, Richtung Applecross.«
Schon lagen der Ort und der See hinter uns. Enge und gewundene Straßen führten durch hügeliges Land, das von stoppeligen Grasteppichen überzogen war.
»H alt nach einer Zufahrt Ausschau«, wies Derek mich an. »I rgendwo muss ein Weg rechts abgehen.«
Es dauerte nicht lange, bis wir die Abzweigung fanden. Ein schmaler, nicht asphaltierter Wirtschaftsweg, der stellenweise so steil war, dass er im Winter unpassierbar sein musste, führte in unzähligen Kurven durch die Hügel. War die Gegend zuvor schon dünn besiedelt gewesen, so waren wir zumindest immer wieder Touristen begegnet, die mit ihren Autos die Landschaft erkundeten. Hier jedoch war es so einsam wie auf einer verlassenen Insel. Keine Häuser, keine anderen Autos. Nicht einmal Wanderer.
Nach einer weiteren Kurve öffnete sich vor uns eine große Freifläche. Ganz am hinterem Ende lag im Schutz eines Hügels ein großes Cottage, flankiert von mehreren Nebengebäuden, vermutlich ehemaligen Stallungen. Drei Geländewagen parkten davor. Mietautos, wie die Aufkleber an der Windschutzscheibe verrieten.
Derek brachte seinen Wagen dahinter zum Halten und stellte den Motor ab. Keine Minute später standen wir an der Haustür und er klopfte an. Während wir darauf warteten, dass jemand öffnete, spürte ich, wie meine Nervosität wuchs. Zum ersten Mal, seit Derek von dieser Spur erzählt hatte, wurde mir wirklich bewusst, wie wichtig das Treffen mit diesen Leuten war. Ich wusste nicht, was schlimmer wäre; wenn sich herausstellen sollte, dass sie doch nichts gesehen hatten, oder wenn ich durch sie erfuhr, dass Dad und Trick etwas zugestoßen war. Nein, entschied ich. Alles war besser, als weiterhin in dieser Ungewissheit zu leben.
Drinnen waren Schritte zu hören, dann wurde die Tür geöffnet. Eine schlanke, hochgewachsene Frau stand im Türrahmen. Ihr dunkles Haar war im Nacken zu einem Zopf gebunden und ihre ebenso dunklen Augen richteten sich zuerst auf mich, dann auf Derek.
Bevor sie etwas sagen konnte, ergriff er das Wort. »D erek Hathaway«, stellte er sich vor. »W ir haben telefoniert?«
Ein schmales Lächeln zeigte sich auf ihren Lippen. »N atürlich. Wir haben Sie bereits erwartet. Ich bin Marissa.«
Wir folgten ihr einen langen Flur entlang, Derek zwei Schritte hinter mir, in ein Wohnzimmer, das trotz seiner Größe gedrungen und düster
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