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Westwind aus Kasachstan

Westwind aus Kasachstan

Titel: Westwind aus Kasachstan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Anissimow sagen. »Zehn Minuten höchstens. Vielleicht sind es morgen fünfzehn Minuten.«
    Sie nickte, schloß einen Moment die Augen und ging um die Trennwand herum.
    Das erste, was sie sah, war ein Gewirr von Schläuchen, die mit Infusionsflaschen und elektrischen Geräten verbunden waren; auf zwei Bildschirmen zuckten bläuliche Streifen auf und nieder, im gleichen Rhythmus; ein saugendes Geräusch hörte sie und ein Gluckern, in eine Glasflasche tropfte eine trübe, mit Blut durchsetzte Flüssigkeit, und inmitten der Schläuche und Geräte sah sie ein schmales, eingefallenes Gesicht, umwuchert von einem Stoppelbart, und sie hatte Mühe, an diesem Gesicht zu erkennen, wer vor ihr lag. Nur die Augen waren ihr bekannt, jetzt größer als sonst, und diese Augen sahen sie starr an, und um den schmal gewordenen Mund, in den Winkeln der fahlen Lippen, erschien die Andeutung eines Lächelns.
    »Mein Wolferl –«, sagte sie und setzte sich auf den weißen Plastikstuhl neben dem Bett. »Mein Wolferl, ich bin so glücklich, daß du noch lebst.«
    Sie nahm seine Hand und küßte sie, diese harte, schwielige Hand, mit der er ihr Leben aufgebaut hatte, und sie beugte sich über ihn und küßte ihn auf Stirn und Augen und Mund und legte dann den Kopf an seine Schulter, so wie sie Nacht für Nacht bei ihm geschlafen hatte und glücklich war in seiner Liebe.
    Er bewegte die Lippen, flüsterte etwas, aber erst als sie das Ohr an seinen Mund legte, hörte sie ihn.
    »Erna …«, sagte er. »Erna … liebe Frau … erschrick nicht …«
    »Warum soll ich erschrecken, Wolferl?« Sie streichelte wieder sein Gesicht und die nackte Brust, die mit Kontakten übersät war. »Es geht dir doch gut. Bald wirst du nach Hause kommen.«
    »Nach Hause«, flüsterte er. »Ja … Erna … hol mich nach Hause.«
    Sie blickte über seinen nackten, unter dem Leinentuch liegenden Körper, aus dem die Schläuche herauskamen, und sie sah, wie die Infusionsflüssigkeiten in seine Adern tropften, und dann streichelte sie seine Beine, die nie wieder laufen würden. Bis zu seinem Ende würde er so wie jetzt daliegen, unbeweglich und kraftlos, und nur seine Augen und der Mund würden leben und sein starkes Herz, das den Kampf nicht aufgeben wollte.
    »Das ganze Dorf läßt dich grüßen«, sagte sie tapfer. »Die Nachbarn werden uns helfen, wenn es nötig ist. Mach dir keine Sorgen, es geht alles weiter wie bisher. Die Hauptsache ist, daß du bald gesund bist. Der Arzt ist sehr zufrieden mit dir, sagt er.«
    Sie zuckte zusammen. Dr. Anissimow klopfte leise gegen das Gestänge der Trennwand. Zehn Minuten, die Zeit ist um. Hilfesuchend blickte sie zu dem großen Fenster. Und da standen sie und starrten ins Zimmer und auf die Schläuche und Apparate und auf den Mann, der unbeweglich im Bett lag und nur den Kopf bewegen konnte. Und ausgerechnet Gottlieb, der angehende Mediziner, weinte, Gottlieb, der Revolutionär, der dauernd im Streit mit seinem Vater gelebt hatte. Er lehnte sich an die Schulter seines Bruders und schluchzte. Kiwrin fuhr sich mit seinen Händen immer wieder über das Gesicht. Heinrichinsky hatte die Hände gefaltet und betete. Hermanns Miene war versteinert, und er hielt seinen Bruder umarmt, und Eva stand am Fenster, sah ihren Vater an und spürte die Kraft, die Erna aufbrachte, und fühlte die gleiche Kraft in sich, bereit, dem Schicksal die Stirn zu bieten. In diesen Minuten war sie ein anderer Mensch geworden, stark genug, um denken zu können: Papa, das Leben geht weiter. Auch deins. Auch wenn du nicht mehr laufen kannst – ist das so wichtig? Wir sind doch bei dir, wir sind immer um dich, und ich werde dir die Zeitung vorlesen, und du wirst wieder lachen und mit uns schimpfen wie bisher, es wird alles so sein wie früher. Nur laufen kannst du nicht mehr. Papa, das Leben besteht nicht nur aus Laufen. Dein Leben sind wir, Mama und wir Kinder.
    Erna wandte den Blick vom Fenster und beugte sich wieder über ihren Mann. Seine Augen bettelten, und sie verstand ihn, streichelte seinen Kopf und küßte ihn auf die blutleeren Lippen.
    »Mein Wolferl …«, sagte sie an seinem Ohr. »Noch eine Überraschung habe ich für dich.« Sie spürte, daß er nicken wollte, und nahm seinen Kopf zwischen ihre Hände. »Kannst du zur anderen Seite blicken? Komm, ich helfe dir.«
    Sie drehte vorsichtig seinen Kopf zum Fenster und legte ihr Gesicht an seine Wange. Lange sagte Weberowsky nichts. Er starrte auf die große Glasscheibe und die Gesichter hinter

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