Westwind aus Kasachstan
ihr. Hermann hatte Gottlieb losgelassen und barsch zu ihm gesagt: »Beherrsch dich. Verdammt noch mal, Vater soll nicht sehen, daß wir weinen! Lächeln müssen wir. Es geht ihm doch gut …« Dann brach seine Stimme ab, und ein Zittern lief durch seinen Körper.
Weberowsky drehte den Kopf wieder zu Erna. Seine Lippen bewegten sich, und sie hielt wieder ihr Ohr an seinen Mund.
»Hermann …«, flüsterte er. »Gottlieb. Eva. Peter. Kiwrin. Wie schön ist das.«
»Am liebsten wäre das ganze Dorf mitgekommen, Wolferl.«
»Laß sie kommen … alle, alle.«
»Ich werde es ihnen sagen.«
An das Gestänge der Trennwand klopfte wieder Dr. Anissimow. Diesmal ungeduldiger, fordernder. Schluß jetzt! Es sind bereits fünfzehn Minuten! Es strengt ihn zu sehr an. Erna erhob sich von dem weißen Plastikstuhl und strich ihrem Mann wieder über das Gesicht. »Schlaf gut, Wolferl«, sagte sie dabei. »Morgen komme ich wieder.«
Er versuchte ein Nicken, aber plötzlich – und Erna zuckte zusammen und auch Dr. Anissimow begriff es nicht – sagte Weberowsky laut und klar:
»Bleib! Erna, bleib bei mir. Geh nicht weg.«
Es war, als habe er seine letzte Kraft hinausgeschrien. Sein Kopf sank zur Seite, und er verlor das Bewußtsein.
Dr. Anissimow zog Erna weg. Er hatte Mühe, sich zu beherrschen und nicht loszubrüllen. »Ganz ruhig verhalten, habe ich geraten«, sagte er hart. »Und was tun Sie? Sie regen ihn nur auf! Ich bezweifle, daß ich Ihnen morgen noch einen Besuch erlauben kann.« Dr. Koslow rannte an ihnen vorbei, gefolgt von einer Schwester. Dr. Anissimow ließ Erna los. »Sie entschuldigen mich. Ich muß zu Ihrem Mann. Gehen Sie in die Kabine und ziehen Sie sich um … und verlassen Sie die Intensivstation! Rufen Sie mich morgen gegen zehn Uhr an. So eine Unvernunft!«
Ohne Gruß verschwand er um die Trennwand. Hinter dem Fenster rasselte eine Jalousie herunter. Ende des Besuches. Kiwrin lehnte den Kopf an die Scheibe. »Es ist fürchterlich«, stammelte er. »Man kann es nicht mit ansehen. Ich habe ein Loch im Herzen, und das Blut läuft heraus, so elend fühle ich mich.«
»Wir sollten jetzt nicht jammern, sondern Mama zur Seite stehen!« erwiderte Eva mit starrem Gesicht. »Wenn wir alle herumstehen und heulen, hat auch sie keine Kraft mehr. Kommt, wir müssen zu ihr.«
Erna verließ mit gesenktem Kopf das Zimmer des Elends und der Schmerzen. Hinter der Stoffwand jammerte noch immer der Mann. Seine Stimme war leiser und schwächer geworden. »Schwester«, röchelte er. »Schwester, komm her. Laßt mich sterben … bitte, bitte … sterben …«
In der sterilen Kabine zog sich Erna um, hängte den weißen Kittel an den Haken, stellte die Gummischuhe in das Regal und streifte die Gazemütze von den Haaren.
Er hat sich doch so gefreut, dachte sie. Er war doch so glücklich. Warum schimpft der Doktor mit mir? Hat er nicht gehört, daß er gerufen hat: Bleib, bleib! Geh nicht weg. Ich müßte die ganze Nacht bei ihm bleiben, hörst du, Doktor? Heute und morgen und immer, solange, bis man sagt: jetzt darf er nach Hause. Er wird schneller gesund, wenn ich bei ihm bin. Das weiß ich besser als du, Doktor. Du hast deine Erfahrungen mit deinen Krankheiten, ich hab' meine Erfahrung mit meinem Wolferl. Ich komme morgen wieder. Und wenn du mich nicht zu Wolferl läßt, schreie ich das ganze Krankenhaus zusammen. Ich werde schreien, schreien.
Sie verließ die Station durch die große Glastür und sah auf dem Vorplatz ihre Familie stehen. Eva lief ihr entgegen und umarmte sie.
»Du warst so tapfer, Mama, so tapfer!« sagte sie.
»Eine heulende Frau nützt Vater gar nichts.« Sie sah hinüber zu Gottlieb. »Warum hast du geweint?«
»Ich konnte nicht anders, Mama. Wie er dalag, mit einem so kleinen Kopf … und dann diese Augen, wie aus Glas.«
»Du mußt lernen, dich zu beherrschen.«
»Gottlieb konnte sich noch nie beherrschen«, sagte Hermann. »Das ist ein Fremdwort für ihn.«
»Keinen Streit! Wir müssen jetzt zusammenhalten.«
»Was hat Wolfgang gesagt?« fragte Heinrichinsky.
»Als er euch am Fenster sah, hat er gesagt: Wie schön!«
»Hat er alle von uns erkannt?«
»Er hat eure Namen genannt.«
»Mich hat er lange angesehen.« Kiwrin nagte an seiner Unterlippe. »Ich werde mich sofort um einen Rollstuhl kümmern.«
»Damit hat es noch lange Zeit.«
»Wißt ihr, wie schwer es ist, nach Atbasar einen Rollstuhl zu bekommen? Ich werde einen Händler bestechen müssen, sonst bekommen wir nie einen
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