Westwind aus Kasachstan
denke, Andreas ist in Moskau?!«
»Mach ihn auf, Wolferl. Mach den Brief auf, dann werden wir vielleicht alles wissen.«
Und dann saßen sie nebeneinander auf der Eckbank. Weberowsky las den Brief vor, der zu ihrem Erstaunen in deutscher Sprache geschrieben war. Nach den Worten: »Wenn Ihr noch an mich denkt, umarme ich alle. Euer Andreas«, legte Weberowsky den Brief vorsichtig auf den Tisch, als sei er auf Glas geschrieben worden.
Erna hatte zu weinen begonnen und lehnte den Kopf an Weberowskys Schulter. »Er hat keinen Brief von mir bekommen«, sagte sie leise. »Alle sind beschlagnahmt worden und verschwunden.«
»Und er hat geglaubt, ich hätte dir das Schreiben verboten. Wie kommt er nur auf diesen Gedanken?«
»Du hattest einmal eine Auseinandersetzung mit ihm und hast ihn angeschrien: ›Du bist ja ein Russe geworden!‹ Da kann man so etwas glauben.«
»Dummheit! Ich mag Andreas.«
»Neun Jahre lang war er tot, schreibt er. Feierlich ist er in Moskau begraben worden, es gibt ein Grab mit seinem Namen auf einem Stein … kannst du das begreifen, Wolferl?«
»Damals war alles möglich. Es war zur Zeit Breschnews. Man hat ihn aus politischen Gründen sterben lassen, Jelzin läßt ihn wieder auferstehen. Daran sieht man, wie Rußland sich gewandelt hat.« Er blickte auf den Brief, rührte ihn aber nicht an. »Andreas ist belogen und betrogen worden, während er sein ganzes Wissen der Sowjetrepublik schenkte. Wie enttäuscht muß er sein. Er war doch immer der große Idealist, der russische Patriot, der mithelfen wollte, Rußland zur stärksten Macht der Welt werden zu lassen.« Er stockte und sah Erna mit zusammengezogenen Brauen an. »Wäre es möglich, daß Andreas mit uns kommt?«
»Wohin?«
»Nach Deutschland.«
»Nie! Er ist mehr Russe als Deutscher.«
»Nach all dem, was er erlebt hat. Das kann man nicht abstreifen wie Wasser von der Haut! Das ist tief eingebrannt. Ich wüßte, was ich jetzt täte.«
»Du bist auch nicht Andreas. Mein Bruder ist einer der bekanntesten Atomforscher.«
»Eben darum. Ihm steht die ganze Welt offen. Man wird ihm Angebote machen, von denen er selbst nicht zu träumen wagt.«
»Das hieße für ihn, Rußland zu verraten.«
»Rußland hat ihn verraten. Es hat ihn sterben und begraben lassen.«
»Auch das neue Rußland wird ihn nicht herauslassen. Draußen, in der anderen Welt, würde er eine Gefahr für Rußland sein. Was in Zukunft auch immer wird … er wird Rußland nie verlassen können.«
»Schreib ihm wieder und frage vorsichtig an, Erna.«
»Es ist doch völlig sinnlos, Wolferl.«
»Versuche es wenigstens. Mehr als nein kann er nicht sagen.« Weberowsky stand auf und ging im Zimmer unruhig hin und her. »Ich hätte große Lust, nach Ust-Kamenogorsk zu fahren und mit ihm zu sprechen. Mein Gott, hätte ich das vor ein paar Wochen gewußt, als ich im deutschen Kulturzentrum war.«
»Da war er noch tot«, sagte Erna leise.
»Ich muß zu ihm eine Verbindung aufnehmen! Stell dir vor, ich bringe Deutschland als Geschenk einen der besten Atomforscher der Welt mit. Dann hätten auch wir keine Sorgen mehr.«
»Du willst Andreas verkaufen?« fragte sie starr. »Du willst mit meinem Bruder Geschäfte machen? Hier der Experte – gebt mir dafür einen Bauernhof mit gutem Land! Wolferl!«
»Du siehst das falsch, Erna. Wenn Andreas Rußland verlassen will …«
»Er will es nicht!«
»Nehmen wir es an.«
»Er darf es nicht. So großzügig kann auch Jelzin nicht sein, seinen besten Mann der Atomforschung in den Westen zu lassen.«
»Dann wird Andreas flüchten.«
»Und auf der Flucht erschießen sie ihn.«
»Es kann ganz einfach sein. Von Ust-Kamenogorsk ist die chinesische Grenze zum Greifen nahe. Auch die Mongolei grenzt an Kasachstan. Zwei Wege, auf denen er entkommen kann.«
»Wem sollte er entkommen? Niemand verfolgt ihn.«
»Er ist dein einziger Bruder. Soll er wieder verschwinden, und diesmal für immer? Weißt du, was nach Gorbatschow und Jelzin kommt? Die russische Geschichte ist ein großer Topf voll Blut. Wem man heute zujubelt, kann morgen schon geköpft sein. Davor habe ich Angst … und deshalb will ich nach Deutschland. Da weiß ich, ich kann ohne Zittern vor Morgen leben, da weiß ich, daß ich in Frieden und Freiheit lebe. Wer das nicht sieht, ist politisch blind!«
»Es kann aber auch ganz anders kommen, Wolferl.«
»Es kann …! Aber darauf verlasse ich mich nicht. Die Familie Weberowsky soll endlich zur Ruhe kommen – nach fast
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