Wetterleuchten
Haus, ging die klapprigen Stufen der Veranda hinunter und rief: »Sind Sie Annie Taylor?«, worauf Annie wenig begeistert erwiderte: »Sie müssen Mr McDaniels sein.«
»Wie er leibt und lebt«, gab er zurück.
»Das ist... äh ... Das ist klasse«, sagte Annie, obwohl ihre zögerliche Antwort eher das Gegenteil nahelegte.
Jenn konnte ihr das kaum übelnehmen. Vermutlich war Annie Taylor noch nie jemandem wie Bruce McDaniels begegnet. Er gefiel sich in der Rolle des komischen Kauzes und betonte jede Schrulle, die ihn exzentrisch erscheinen ließ. So trug er sein graues Haar schulterlang wie Benjamin Franklin. Seine suppenschüsselgroße Glatze verbarg er unter einer Second-Hand-Skimütze mit der Aufschrift SKI SQUAW VALLEY. Dabei war er in seinem ganzen Leben noch nie Ski gefahren. Auch körperlich war er in keiner guten Verfassung: Er war dürr wie eine Vogelscheuche, abgesehen von seiner Wampe, die ihm über den Hosenbund hing und mit der er aussah, als sei er im sechsten Monat schwanger.
Er kramte in seiner Hosentasche und sagte: »Hab Ihren Schlüssel gleich hier«, als die Haustür aufflog und Jenns kleine Brüder herausgestürmt kamen.
»Wer ist die denn?«, wollte Petey wissen.
»Dad, er hat ’nen Hot Dog gegessen, aber die waren fürs Abendessen!«, schrie Andy. »Jenny, sag’s ihm! Du hast Mom gehört.«
»Ruhe, ihr kleinen Hosenscheißer«, trompetete Bruce McDaniels fröhlich. »Das ist Annie Taylor, unsere neue Nachbarin. Und das, Annie, sind die Früchte meiner Lenden: Jennifer, Petey und Andy. Jenn ist die mit dem Fußball.« Er gluckste, als hätte er einen tollen Witz gerissen, dabei hatte man Jenn wegen ihres Kurzhaarschnitts und Mangels an weiblichen Kurven schon mehr als einmal für einen Jungen gehalten.
Annie antwortete höflich, dass es sie freue, sie alle kennenzulernen. Dann überreichte ihr Bruce feierlich den Schlüssel zu ihrem neuen Zuhause und teilte ihr mit, dass er das Türschloss erst am Morgen geölt habe und sie den Wohnwagen in einwandfreiem Zustand und die ganze Ausstattung funktionstüchtig vorfinden würde.
Annie blickte wenig überzeugt, murmelte aber: »Wunderbar«, als sie den Schlüssel entgegennahm. Sie atmete tief ein, schloss die Tür auf, steckte den Kopf hinein und sagte: »Ach, du meine Güte.« Dann zog sie ihn genauso schnell wieder heraus, wie sie ihn hineingesteckt hatte. Den umherstehenden McDaniels warf sie ein Lächeln zu und fing an, ihr Auto zu entladen. Sie hatte ordentlich mit Klebeband verschlossene und beschriftete Kisten, einen Computer mit Drucker sowie eine spektakuläre Garnitur zusammenpassender Gepäckstücke. Sie fing an, alles in den Wohnwagen zu hieven.
Keiner der McDaniels-Truppe machte Anstalten, ihr zu helfen, aber man konnte es ihnen nicht übelnehmen. Sie waren alle davon überzeugt, dass Annie es nicht länger als eine Nacht darin aushalten würde.
Während der ersten vierundzwanzig Stunden von Annie Taylors Aufenthalt ging Jenn ihr aus dem Weg, hauptsächlich, weil sie sich schämte. Drei Stunden, nachdem Annie ihr Auto ausgeräumt hatte, war Jenns Mom in ihrem Subaru Forester, der als South-Whidbey-Taxiunternehmen fungierte, nach Hause gerumpelt. Bruce McDaniels hatte in den drei Stunden die sorgfältige Qualitätskontrolle seiner diversen Gebräue fortgeführt, und als seine Frau aus dem Subaru ausstieg und müde auf das Haus zuging, hatte er sie mit einem schmetternden »K-K-K-Katie! Meine wuun-deer-schöö-nee Katie!« begrüßt. Dann rannte er aus vollem Halse singend auf sie zu und fiel auf die Knie. »Wie kannst du nur! Schon wieder!«, hatte sie daraufhin geschrien und war sofort in Tränen ausgebrochen. Jenn versuchte, über diese entsetzliche Schmach hinwegzukommen, indem sie sich in ihr Zimmer verkroch und sich wünschte, ihre Eltern würden beide verschwinden und Andy und Petey gleich mitnehmen.
Von ihrem Fenster aus beobachtete sie heimlich Annie Taylor, die in regelmäßigen Abständen aus dem Wohnwagen kam, um entweder Holz für den Ofen zu holen oder auf dem mit Treibholz übersäten Strand spazieren zu gehen. Auf ihren Spaziergängen nahm sie jedes Mal ein Fernglas mit. Sie setzte sich auf eine angeschwemmte knorrige Baumwurzel und betrachtete damit die Oberfläche des Wassers. Jenn dachte zuerst, sie halte nach den hiesigen Orcas Ausschau. Killerwale tummelten sich zu jeder Jahreszeit im Possession Sound, und es lebten etwa siebzig Tiere im Umkreis von achtzig Kilometern um Whidbey Island herum. Für Jenn
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