Wetterleuchten
Stöhnen kam nicht aus dem Wohnwagen. Es kam von ... Jenn horchte angestrengt. Der Regen fiel auf den Wohnwagen und prasselte aufs Dach, aber da war kein Wind, der sich in das Geräusch mischte. Annies Musik spielte leise und Annies Handy fing an zu klingeln. Aber das war’s. Und dann ... wieder das Stöhnen. Es klang nahe, als käme es von unter dem Wohnwagen.
Jenn sprang von der Stufe. Eine Stimme in ihrem Kopf sagte ihr, sie solle lieber verschwinden, weil sie gar nicht wissen wollte, was sich da unten befand. Eine andere Stimme warnte sie, dass es ein verletztes Tier sein könnte, und verletzte Tiere konnten gefährlich sein. Deshalb sollte sie lieber ihren Dad holen. Eine weitere Stimme riet ihr, es einfach zu ignorieren. Morgen wäre da nichts mehr. Aber das Stöhnen wurde zu einem Weinen, und als sie das Weinen hörte, handelte Jenn blitzschnell.
Sie ging auf die andere Seite des Wohnwagens und musste um Scheite, die vom Holzhaufen gefallen waren, ein paar Netze ihres Dads, vier Ködereimer und Schwimmer herumgehen. Auf der Rückseite des Wohnwagens, wo sich der Propangasbehälter befand, hörte sie das Stöhnen erneut und dann wieder das Weinen. Es war ziemlich nah.
Die Schutzblende des Wohnwagens war zum Teil entfernt worden; Jenn selbst hatte sie entfernt, als sie Annie geholfen hatte, den Kasten bewohnbar zu machen. Sie hätte sie wieder einsetzen sollen, hatte es aber vergessen. Jetzt kroch sie darunter, als sie noch einmal das Stöhnen hörte.
Sie folgte dem Geräusch. Auf einmal war ein Wimmern zu hören. Dann ein Schrei. Und dann ein tief sitzender Husten. Menschliches Husten, dachte Jenn. Das war kein Tier. Unter dem Wohnwagen versteckte sich ein Mensch.
In diesem Moment wäre sie beinahe wieder rausgekrochen. Unter dem Wohnwagen war es sehr dunkel, und da die Nacht schnell hereinbrach, würde es nicht mehr lange dauern, bis sie gar nichts mehr sehen konnte. Sie bewegte sich vorsichtig vorwärts und rief: »Wo sind Sie? Ich kann Sie nicht sehen. Wer sind Sie? Ist alles in Ordnung?«
Ein weiteres Stöhnen antwortete ihr. Und dann sah sie vor sich einen Schatten, der noch dunkler war als die restlichen Schatten unter dem Wohnwagen. Sie bewegte sich mit klopfendem Herzen darauf zu und sagte: »Ist alles in Ordnung? Brauchen Sie Hilfe?«
Zuerst bekam sie keine Antwort. Jenn kroch weiter. Und dann sah sie es.
Ein schmaler Lichtstreifen fiel durch ein Loch im Wohnwagen. Im Licht war ein Arm sichtbar, die Hand ausgestreckt und die Finger flehentlich gekrümmt. Der Arm gehörte einem schmutzigen Mädchen mit verfilztem Haar, das so lang war, dass es ihm bis zu den Knien zu gehen schien. Sie hatte Dreck im Gesicht und Matsch auf ihren Kleidern. Sie trug eine Jacke, Jeans, einen Pullover und Socken. Sie hatte nur einen Schuh, einen mit Schlamm verdreckten Nike-Turnschuh. Ihr anderer Fuß sah verletzt aus. Sie selbst wirkte wie halbtot.
Ihr Blick begegnete Jenns und sie schreckte zurück. Jenn sagte: »Warte hier«, als ob das Mädchen in dem Zustand, in dem es war, weglaufen könnte. Sie fügte hinzu: »Ich hole meinen Dad.«
Das tat sie dann auch.
Kapitel 34
F ahr schneller«, sagte Jenn zu ihrer Mutter. Sie sausten den südlichen Teil der Cultus Bay Road entlang. Jenns Dad hatte die Gemeinschaftspraxis in Langley angerufen, um sicher zu gehen, dass Rhonda Mathieson nicht Feierabend machte; daher hatte sie keine Angst, dass die Praxis geschlossen sein würde. Allerdings hatte sie große Angst, dass das seltsame Mädchen auf dem Rücksitz sterben würde, bevor sie dort ankamen.
»Wir müssen trotzdem vorsichtig sein, Jenny«, erwiderte Kate McDaniels. »Wenn ein Reh auf die Straße springt, stecken wir in Schwierigkeiten, Schatz.«
»Sie sieht nicht gut aus.«
»Dann müssen wir für sie beten.« Und das tat sie dann auch, und da Kate McDaniels Evangelikalerin bis in die Haarspitzen war, kannte sie viele Arten, mit Gott zu reden. Bei manchen musste man in Zungen reden, aber das ließ sie fürs Erste, wofür Jenn dankbar war. Stattdessen bat sie den Herrn, sie nicht zu verlassen und sie zu leiten, auf dass sie Seine Wege erkennen konnten.
Jenn beobachtete das Mädchen. Ihre Augen waren geschlossen, und ihr Atem ging flach. Sie hatten sie in eine Decke gehüllt und ins Auto gelegt. Aber ihr verletzter Fuß ragte darunter hervor, und er roch nach vergammeltem Fleisch. Jenn konnte den Eiter sehen, der durch ihren Strumpf sickerte. Davon wurde ihr schlecht, und sie wandte sich ab.
»Kennst du sie,
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