Wetterleuchten
nicht sein sollte, war zwanglos, sorglos und völlig unbefangen. Und doch war sie es.
»Beth und ich sind nicht monogam, wenn eine von uns verreist ist«, erklärte Annie. »Wir haben keine Regeln. So, wie ich Beth kenne - und ich kenne sie sehr gut -, treibt sie es wahrscheinlich gerade mit irgendeinem milchgesichtigen Assistenzarzt im Krankenhaus, mit dem sie sich das erlauben kann. Das bedeutet gar nichts, weißt du. Es ist nur ... na ja, es ist nur Sex.«
Jenn konnte sich nicht erklären, warum, aber sie spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Sie verstand absolut nicht, warum ihr zum Heulen zumute war, und das machte sie wütend.
Annie sagte: »Du bist schockiert. Das tut mir leid. Aber du hättest dir nicht meine privaten Fotos ansehen sollen.«
»Warum habt ihr die gemacht?«, wollte Jenn wissen. »Sie zeigen alles und ... es ist widerlich.«
Annie lächelte. »Nein, ist es nicht, aber ich erwarte nicht, dass du das schon verstehst. Außer du hattest bereits selbst Sex. Mit jemandem, der weiß, was er - oder sie - tut.«
»Ich bin keine Lesbe.«
»Das hab ich nicht gesagt. Aber mir ist aufgefallen, wie du mich ansiehst, und in meinem Alter ist mein Lesbenradar ehrlich gesagt ziemlich gut.«
»Hör auf! Ich hab dir gesagt, du sollst aufhören!«
»Es gibt einen Weg, wie wir es herausfinden könnten«, sagte Annie. »Wenn du magst. Magst du?« Annie berührte ihr Haar.
Ein Schock durchfuhr Jenns Körper. Sie sprang von der Bank auf und schrie: »Fass mich nicht an, du perverse Schlampe!«
Sie drängte sich an der Meeresbiologin vorbei und stürmte aus dem Wohnwagen.
Es hatte angefangen zu regnen.
Draußen versuchte sie, Atem zu holen und mit dem Weinen aufzuhören. Sie versuchte, ihr Gehirn dazu zu zwingen, sich irgendetwas einfallen zu lassen.
Der Regen fiel auf ihr Gesicht, auf ihr Haar und ihren Rücken hinunter, aber sie spürte ihn kaum. Sie wusste, dass sie aus dem Regen heraus musste, aber sie konnte den Gedanken nicht ertragen, zurück ins Haus ihrer Eltern zu gehen. Das Inseltaxi parkte draußen; ihre Mom war also zu Hause. Wenn Jenn jetzt ins Haus ging, müsste ihre Mom nur einen Blick auf ihr Gesicht werfen, um zu wissen, dass etwas Schlimmes passiert war. Und sie würde wissen wollen, was.
Jenn wollte auf keinen Fall darüber reden. Weder über Annie. Noch über Chad. Noch über die Fotos, die sie nicht hätte sehen sollen. Noch über das Angebot, das Annie ihr gemacht hatte. Allein bei dem Gedanken daran wurde ihr schlecht. Sie kannte Jenn nicht. Niemand kannte sie.
Jenn wurde bewusst, dass sie mit Ihrer Aktion in Annies Wohnwagen alles vermasselt hatte. Sie hatte nicht einmal die Bilder von Nera gefunden und hatte immer noch keine Ahnung, ob es ein Foto von dem Sender gab, das scharf genug war, damit man die Seriennummer ablesen konnte. Sie hatte Squat hängen lassen.
Sie hatte es auch versäumt, Annie zu fragen, ob sie ihre Taucherausrüstung benutzen könnte, und das war wichtig für Becca und Beccas Plan, weil sie sonst nicht zu dem dämlichen Boot tauchen konnten, ohne dass irgendjemand mitbekam, was sie da vorhatten. Becca hatte sie also auch hängen lassen.
Noch schlimmer fühlte sie sich in diesem Moment nur, wenn sie an Fußball, die bevorstehenden Testspiele der All-Island-Mannschaft und daran dachte, wie sie sich selbst hatte hängen lassen, weil sie nicht täglich für die Testspiele trainiert hatte. Selbst jetzt, selbst hier im Regen hätte sie trainieren müssen. Aber das tat sie nicht, sie tat überhaupt nichts. Sie war die totale Versagerin, und in ein paar Wochen, wenn sie den Sprung in die Mannschaft nicht schaffen würde, weil sie nicht genug trainiert hatte, würden alle Bescheid wissen.
Wen interessiert das schon?, dachte Jenn. Wen, wen, wen interessiert überhaupt irgendwas? Sie würde diese dämliche Insel nie verlassen und war ein Idiot zu glauben, dass ihr das je gelingen könnte. Sie würde kein Stipendium bekommen - ganz gleich, ob es ein Sport- oder sonst irgendein Stipendium war —, und wenn doch, wäre es für das schlechteste College im Land in der ätzendsten Stadt, die man sich vorstellen konnte. Wenn sie dann mit dem Abschluss ihrer Wahl fertig war, würde sie keinen Job finden können und sowieso wieder auf der Insel landen. Sie saß in der Falle wie eine Ratte auf einem sinkenden Schiff, und der einzige Hoffnungsschimmer ...
Da hörte sie ein Stöhnen. Sie stand immer noch auf der Stufe, die zur Tür des Wohnwagens führte, aber das
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