Wetterleuchten
den zweiten Wohnwagenschlüssel heranzukommen, wenn es denn einen gab. Sie sagte: »Also ... der Schlüssel, Dad? Gibt es einen? Damit ich ihr eine Nachricht hinterlassen kann?«
Er antwortete: »Nein. Jedenfalls nicht, soweit ich weiß. Aber das ist ihr Wagen, oder? Klingt nicht nach dem Auto deiner Mom.«
Jenn horchte und hörte den Wagen. Sie steckte den Kopf aus dem Brauschuppen und sah, dass ihr Dad recht hatte. Annie Taylor kam gerade im Licht des späten Nachmittags zu Hause an. In einer Hand hielt sie ihre Kamera, und ihren Laptop hatte sie unter den Arm geklemmt. Sie betrat den Wohnwagen, ohne Jenn zu bemerken. Genau wie gestern im Wasser, dachte Jenn. Annie hatte nur eine Sache im Kopf.
Etwa zehn Minuten nach Annies Ankunft klopfte Jenn an die Tür des Wohnwagens. Niemand antwortete. Jenn drückte die Klinke und stellte fest, dass die Tür nicht abgeschlossen war. Sie öffnete sie und ging hinein.
Annie stand unter der Dusche, was um diese Tageszeit ungewöhnlich war. Jenn hörte im Bad das Wasser rauschen, und hinten im Wohnwagen spielte Musik. Jenn wollte Hallo rufen, doch dann begriff sie, dass das ihre Chance war, und setzte sich schnell auf die Bank. Sie hatte Glück. Annie war eingeloggt.
Jenn starrte auf den Bildschirm. Der Bildschirmschoner war ein Foto von Nera, ein weiterer Beweis für Annies Besessenheit von dem Tier. Es wäre perfekt gewesen, wenn es eine Nahaufnahme von Neras Sender gewesen wäre, aber das war nicht der Fall. Es zeigte die Robbe von vorne, wie sie direkt in die Kamera blickte; es war dasselbe Foto, das Annie bei der Versammlung gezeigt hatte. Da war wieder dieser Blick, bei dem es einem eiskalt den Rücken hinunterlief. Vielleicht, überlegte Jenn, hatte Becca doch recht.
Die Dusche wurde abgedreht. Jemand wie Annie verschwendet bestimmt kein Wasser, dachte Jenn. Sie betrachtete den Bildschirm und ging die verschiedenen aufgeführten Ordner durch. Kleine Bilder gaben ihr Hinweise darauf, wo sie suchen sollte. Sie klickte auf eines. Da waren Dutzende Ordner, die jeweils mit einem Datum versehen waren. Sie begann, nach unten zu scrollen.
Annie fing an zu summen. Eine Schublade wurde aufgeschoben. Ein Föhn eingeschaltet.
Jenn klickte auf den letzten Ordner. Es musste der aktuellste sein. Wenn es ein Bild von Neras Sender gab, war es bestimmt hier drin.
Aber da waren keine Bilder von Nera. Stattdessen fand sie dort Bilder von Chad. Er war völlig nackt, seine Erregung war nicht zu übersehen, und er grinste breit in die Kamera. Im Hintergrund war die Koje auf seinem Boot mit zerwühlten Laken und Kissen, die überall herumflogen. Auf dem Boden am ihn herum lag ein Haufen Kleider. Jenn erkannte darunter Annies olivfarbenen Rollkragenpulli.
Sie starrte auf das Foto. Ihr wurde schlecht. Da waren noch andere Fotos. Sie konnte nicht anders und fing an, sich eins nach dem anderen anzuschauen. Chad und Annie. Annie und Chad. Chad allein. Annie allein. Sie posierten und lachten, halbnackt und nackt. Ich habe eine Freundin, sie heißt Beth.
Worüber hatte Annie noch gelogen? Worüber log sie noch? Und warum verdammt noch mal spielte es überhaupt eine Rolle?
»Jenn?«
Jenn schreckte auf. Sie hatte nichts gehört. Sie hatte nicht bemerkt, als der Föhn ausging. Die nackte Annie von den Bildern stand jetzt im kurzen Flur, der zum Schlafzimmer führte.
»Was siehst du dir an?« Sie bewegte sich auf Jenn zu.
Jenn erstarrte. Sie konnte sich nicht einmal mehr daran erinnern, wie man den Ordner schloss, den sie geöffnet hatte. Annie stellte sich neben sie und sah hinunter.
»Oh«, sagte Annie. »Ups. Wie ich sehe, hast du’s herausgefunden. Hast du danach gesucht? Du hättest mich einfach fragen können. Ich hätte dir die Wahrheit gesagt.«
Alles, was Jenn darauf erwidern konnte, war: »Was ist mit Beth?«
Annie beobachtete sie und machte keine Anstalten, sich etwas überzuziehen. »Was ist mit ihr?«
»Du hast gesagt, sie wäre deine Freundin. Du hast gesagt, sie heißt Beth. Du hast mich glauben lassen ...«
»Ich habe eine Freundin. Sie heißt Beth.«
»Du betrügst sie.«
»Sieht wohl so aus, was?«
Annie ging endlich weg ins Schlafzimmer ganz hinten im Wohnwagen. Sie kam zurück, nachdem sie sich ein Sweatshirt, eine Jogginghose und Strümpfe angezogen hatte. Zur Abwechslung sah sie mal nicht modisch aus, dachte Jenn. Aber sie wirkte auch kein bisschen beschämt oder gar verlegen. Und das sollte sie sein, oder? Beschämt, verlegen, reumütig, schuldbewusst. Was sie
Weitere Kostenlose Bücher