Wetterleuchten
ist nicht ihr persönliches Eigentum, Mr Thorndyke. Und nach dieser Versammlung kommt es mir so vor, als würden die Leute gerne dafür sorgen, dass sie am Leben bleibt.«
»Halten Sie sich von der Robbe fern«, blaffte er sie an.
Die Fragen, die Jenn durch den Kopf gingen, waren Annie ins Gesicht geschrieben. »Warum?«, war eine. »Was bedeutet Ihnen die Robbe?«, war die andere.
TEIL II
SARATOGA WOODS
Cillas Welt
T age und Nächte sind vergangen. Da ich nicht weiß, was ich sonst tun soll, folge ich dem Lauf der aufsteigenden Straße, um von dem Ort wegzukommen, wo die Mommy und der Daddy mich zurückgelassen haben. Ich suche nach ihnen. Ich suche nach dem Silbergrau ihres Wagens. Aber als ich das Ende der Straße erreiche, ist da niemand. Deshalb fange ich an zu laufen.
Ich gehe Richtung Süden. Für mich gibt es nur Licht und Dunkelheit. Wenn es Licht ist, wandere ich entlang der Straßen, auf die ich stoße, biege mal rechts, mal links ab, je nachdem, was mir mein Gefühl sagt. Ich gehe oben an Klippen entlang. Ich gehe an Feldern vorbei. Ich gehe tief in Wälder hinein. Das tue ich, wenn es Licht ist. In der Dunkelheit schlafe ich. Ich versuche, einen sicheren Ort zu finden, an dem ich mich verborgen vor den Blicken anderer hinlegen kann, und ich versuche, mich warm zu halten.
Autos sausen an mir vorbei, wenn ich am Straßenrand entlanglaufe. Im Regen oder Schnee fahren sie langsamer, kurbeln ein Fenster herunter und rufen: »Hey! Brauchst du eine Mitfahrgelegenheit?« Aber ich habe keine Worte und antworte nicht. Brauchen, denke ich. Was ist das?
Ich fühle mich schwach vor Hunger, und dieser Hunger führt mich zur Rückseite von abgelegenen Häusern, wo Mülltonnen voller Abfälle stehen. In einer Stadt lockt er mich zu Containern hinter Gebäuden, wo mir Essensduft verrät, dass hier Mahlzeiten gekocht und serviert werden. Aber nach der einen Stadt kommt keine andere, und so laufe ich einfach weiter.
Die Nächte sind lang. Die Tage sind kalt und kurz. Frost überzieht die Zaunpfosten. Er bildet eine Haut auf den Blättern von Büschen und auf den Wedeln von Farnen im Wald. Er macht den Boden hart.
Ich bewege mich lediglich von einem Punkt zum nächsten. In der Ferne suche ich nichts jenseits dessen, was ich erreichen kann. Ich habe in der Welt schon immer so gelebt und begreife, dass ich jetzt auch so leben muss.
Eine Flut hat mich erfasst und trägt mich irgendwohin. Ich lasse mich mitreißen.
Kapitel 10
A usgerechnet ein Projekt in Geschichte brachte mehr oder weniger das endgültige Aus für Becca und Derric. Als sie später darüber nachdachte, konnte Becca es nicht fassen, dass etwas so Unwichtiges ihrer Beziehung den Todesstoß versetzt hatte.
Schritt eins war Mr Keiths Aufgabenstellung gewesen: Ihr werdet in Zweiergruppen arbeiten, mündlich und schriftlich, und ich will nichts aus dem Internet sehen, verstanden? Abgabe ist in sechs Wochen. Ich werde es überprüfen, verlasst euch drauf.
Schritt zwei war die Partnersuche: Natürlich wollten alle mit Squat Cooper zusammenarbeiten, weil er der Schüler mit dem meisten Grips war. Jenn McDaniels brüllte aus irgendeinem merkwürdigen Grund: »Kindergarten und Milch!«, worauf Squat antwortete: »Was hab ich gesagt? Volltreffer«, und ihr damit zu verstehen gab, dass er einverstanden war.
Bei Schritt drei versuchten alle anderen verzweifelt, einen vernünftigen Projektpartner zu finden. Becca hätte in diesem Moment Derric fragen sollen und hätte es auch getan und wollte es auch tun, aber da hörte sie, wie er EmilyJoy Hall fragte, ob sie mit ihm zusammenarbeiten wolle, und das war’s dann.
Bei Schritt vier musste sie schließlich mit Tod Schuman vorliebnehmen, weil innerhalb von dreißig Sekunden nur noch er übrig war. Diese Tatsache sowie sein Spitzname, »Zweitunterhosen-Schuman«, hätten ihr eine Warnung sein müssen, dass mit ihm etwas nicht stimmte, aber selbst dann hätte sie keine Wahl gehabt. Sie brauchte einen Partner, und außer Tod war niemand mehr zu haben.
»In der Mittagspause in der Bibliothek«, sagte er zu ihr, als sie den Klassenraum verließen. »Wird’n Kinderspiel. Wenn du deinen Teil nicht in den Sand setzt, haben wir’s schon in der Tasche. Mein Teil wird ’ne Eins. Kein Problem.«
Aber sein Flüstern war nicht so selbstsicher wie seine Worte und offenbarte einen Plan, der Beccas Bedenken nicht zerstreute. Keith... dummes Arschloch... Internet, denn wie sollte er jemals... verrieten Becca alles. Ebenso
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