Wetterleuchten
wollte Ivar ihr gar nicht glauben, dass sie Nera gesehen hatte. Seine erste Reaktion war: »Sie ist gestern vor Glendale aufgetaucht. Jetzt müsste sie irgendwo bei Clinton sein. In der Nähe der Fähre. Hast du sie da gesehen?« Er war in der Küche des Farmhauses, wo er die sauberen Arbeitsflächen, den Ofen und die Spüle bei dem Versuch, einen Napfkuchen zu backen, der jetzt auf einer der Herdplatten stand, in ein Schlachtfeld verwandelt hatte. Er wedelte mit einer Sprühflasche Universalreiniger herum, sprühte alle sichtbaren Oberflächen mit Unmengen Reiniger voll und verteilte dann den Schmutz mit einem Geschirrtuch. Becca schüttelte es bei dem Anblick, und sie nahm ihm das Reinigungszeug und das Tuch ab. Er sagte nichts, während sie sich daran machte, die Schweinerei zu beseitigen, die er hinterlassen hatte.
Sie sagte: »Im Jachthafen von Langley. Es war mein erster Tauchgang im offenen Wasser. Sie war da.«
Ivar erwiderte: »Das kann nicht sein. Es muss eine andere Robbe gewesen sein, Becks. Wenn es Nera gewesen wäre, hätte es einer der Robbenbeobachter unten bei Sandy Point ins Netz gestellt.«
»Es war eine schwarze Robbe, Ivar«, erklärte ihm Becca, und als sie fortfuhr und ihm von Annie Taylors und Chad Pedersons Plänen erzählte, riss Ivar hinter seiner dicken Brille die Augen auf. Als sie fertig war, verließ er die Küche und steuerte auf die Treppe zu.
Becca ging ihm nach. Sie war noch nie weiter als bis zur Küche des Farmhauses gekommen. Jetzt befand sie sich in einem altmodischen Wohnzimmer, wo eine breite Tür zu einem Flur und einer ungenutzten Eingangstür führte. Die Treppe befand sich im Flur.
Becca war nicht sicher, ob sie die Treppe hochsteigen sollte, aber sie konnte hören, wie Ivar oben herumpolterte. Da er auch ununterbrochen vor sich hin murmelte, beschloss sie, nach oben zu gehen.
Oben waren drei Schlafzimmer sowie ein Bad mit alten Kacheln und einer Badewanne mit Füßen. Von Ivars Zimmer hatte man einen Ausblick auf die Useless Bay, und da ein teures Teleskop am Fenster stand, dachte Becca zuerst, er wäre in sein Zimmer gegangen, um nach der Robbe Ausschau zu halten. Doch wie sich herausstellte, saß er an einem Computer auf der anderen Seite des Raums, und als sie sich ihm näherte, sah sie, dass er die Website der Robbenbeobachter betrachtete. Sein Flüstern verriet ihr: kann nicht sein ... hätte sehen müssen ... sie muss sich täuschen ..., aber Becca wusste mit Bestimmtheit, dass das nicht der Fall war.
Ivar las am Bildschirm und schob sich die Brille höher auf die Nase. Er warf ihr einen Blick zu und fragte: »Bist du dir wirklich sicher, Becks?«
»Hundertprozentig«, erwiderte sie. »Und Chad muss sie auch gesehen haben, Ivar, denn wie ich schon gesagt habe, haben er und Annie darüber geredet, sie einzufangen. Sie müssen von Nera gesprochen haben, oder? Ich glaube kaum, dass sie über eine andere Robbe reden würden.«
»Ist die Robbe in deine Nähe gekommen?«
Becca schüttelte den Kopf. »Sie hat aber Jenn erschreckt.«
»Geht’s Jenn gut?«
»Ja. Alles in Ordnung.«
»Was ist mit dir?«
»Mit mir? Mit mir ist alles in Ordnung. Wie man sehen kann.«
»Ich meine, hat sie dich auch erschreckt?«
Erschreckt war nicht wirklich das richtige Wort, aber Becca wusste nicht, wie sie Ivar erklären sollte, was genau passiert war, als Nera sich ihr genähert hatte. Also sagte sie: »Sie hat mich angesehen, das war alles.«
So hat es angefangen .. . Ivars Flüstern verriet Becca, dass er Dinge über Nera wusste, über die er nicht redete. Vermutlich mit niemandem. Er fragte scharf nach: »Was meinst du?«
Becca tastete sich vorsichtig heran. In Ivars Kopf steckte eine Menge Wissen, und an dieses Wissen wollte sie herankommen. Sie sagte: »Na ja, sie hat mich angesehen ... so wie ein Mensch. Sie wissen schon. Wie wenn jemand auf der Straße an einem vorbeiläuft, den er nicht kennt, und ihn trotzdem zur Kenntnis nimmt. So hat sich das angefühlt. Ergibt das einen Sinn? Klingt wahrscheinlich irgendwie bescheuert.«
»Nein, überhaupt nicht, Becks«, erwiderte Ivar, aber was er dachte war: W as soll ich ... irgendwann hat man die Verantwortung zu ... warum jetzt, warum jetzt, möchte ich gern ... Seine Worte unterbrachen seinen Gedankenfluss: »Die Dinge kommen in Bewegung.«
»Welche Dinge?«, fragte Becca. Er hatte sich wieder zum Computer gedreht und las, was die Robbenbeobachter gepostet hatten. Sie musste ihre Frage wiederholen und seinen Namen
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