Whiskey für alle
musste man sein Beileid bezeugen, und das bedeutete, am Totenbett niederzuknien und zehn Ave Marias zu beten. Da musste man schon blind sein, wenn man derweil nicht den Aufgebahrten wahrnahm. Jedes Mal, wenn sie sich dann erhob, murmelte sie den gleichen Spruch. »Eine schöne Leiche, Gott segne sie«, und war es ein Mann »Ein stattlicher Toter, Gott segne ihn.« Nie kam eine andere Bemerkung über ihre Lippen. Es war genau der Spruch, den alle anderen sagten und den das Ritual eines Besuches im Totenhaus vorgab. Kam es vor, dass ihre Nachfolger sich mit ihrer Arbeit übertroffen hatten, warteten die an der Bahre sitzenden, grimmig dreinschauenden Wächterinnen gespannt auf Dousies Reaktion. Doch sie blieb sich und dem vorgeschriebenen Ritual treu.
Es war an einem Abend Mitte Januar, es hagelte und stürmte, als Dousie O’Dea unerwarteten Besuch bekam. Jack, ihr Mann, ging auf das zaghafte Klopfen hin zur Tür. Jack und Dousie waren nicht mit Kindern gesegnet. Sie begnügten sich mit ihrer Zweisamkeit und hatten kein großes Verlangen nach weiterer Gesellschaft.
»Wer ist da?«, rief Jack O’Dea.
»Nur wir sind’s«, hieß es von draußen.
»Schön und gut, aber was heißt >wir«
»Na wir, Thade und Donal Fizzell.«
Jack erkannte Thade Fizzells donnernde Stimme.
»Bei Gott«, hörte man Dousie in ihrer Herdecke sagen, »die kommen wegen ihrer Schwester Jule, die ist bestimmt tot.«
Die Brüder standen in der Tür und schüttelten sich die Hagelkörner von Mütze und Schultern.
»Gott segne euch.« Es kam wie aus einem Mund.
»Legt die Mäntel ab und kommt ans Feuer«, begrüßte sie Dousie, stand auf und nahm ihnen das nasse Zeug ab.
»Das Wetter kennt kein Erbarmen«, stellte Thade Fizzell fest, ohne jemanden direkt anzusprechen.
»Nicht mal einen Hund jagt man bei so einem Wetter raus«, ergänzte Donal, der kleinere und jüngere von den beiden, die Bemerkung seines Bruders. Als alle am Feuer zusammengerückt waren und sich gesetzt hatten, nahm Dousie eine Flasche und Gläser aus einer verborgenen Ecke oben in der Herdwand. Die Flasche enthielt poitcheen, selbstgebrannten Whiskey. Sie schenkte großzügig ein, bis die Brüder heftig abwehrten, und gab sicherheitshalber noch einen Schuss hinzu, denn sie ahnte, dass der Protest nicht ernst zu nehmen war. Die Unterhaltung kam erst in Gang, als die Brüder schon bei ihrem zweiten Glas waren. Man sprach über die Launen des Winters, die Qualität des Viehfutters und der Kartoffeln und gelangte erst über diese Umwege zu dem eigentlichen Anliegen des Besuchs. Aber so wollte es die Sitte, egal, wie wichtig das Problem war, man fiel nie mit der Tür ins Haus, sondern vertat etliche Zeit mit Belanglosigkeiten. Derart nebensächliche Ausschmückungen waren dazu angetan, die Spannung auf das Wesentliche zu schüren, und in diesem Falle war es, wie Dousie vorausgesagt hatte, das Dahinscheiden der Jule Fizzell. Da die Brüder Anfang beziehungsweise Mitte siebzig waren, musste Jule als die Älteste der Familie etwa die achtzig erreicht haben.
»Hatte die Ärmste ein rasches Ende?«, fragte Dousie, nachdem Thade und Jack deren Tod verkündet hatten.
»Es ging mehr als rasch«, antwortete Thade Fizzell und schnipste mit den Fingern, um zu verdeutlichen, mit welcher Geschwindigkeit sich ihre Schwester aus dem Leben davongemacht hatte.
»Sie saß am Feuer und stopfte Strümpfe, als man plötzlich die Nadel auf dem Steinfußboden klimpern hörte, und da glitt ihr auch schon die Socke aus der Hand.«
»Möge der liebe Herrgott ihr im Himmel ein silbernes Bett zugestehen.« Jack O’Dea war es, der den frommen Wunsch äußerte.
Thade Fizzell überging die flehentliche Bitte und kam zur Sache. »Ihr wisst natürlich, dass sie nicht gerade mit Schönheit gesegnet war.«
Die O’Deas nickten verständnisvoll.
»Um ehrlich zu sein«, fuhr Thade fort, »man hätte wohl kaum eine hässlichere Person finden können.«
»Sie war der unansehnlichste Mensch, den ich je gesehen habe«, unterstrich Donal Fizzell die Bemerkung seines Bruders. »Obwohl sie meine Schwester war, habe ich immer, wenn ich unterwegs war, ein Auge darauf gehabt, ob es andere gibt, die noch schrecklicher aussehen, aber ich habe nie ein hässlicheres Wesen gefunden. Unsere Jule übertraf einfach alle. Sie verschreckte sogar die Schulkinder auf ihrem Heimweg, wenn die sie zu Gesicht bekamen. Selbst die Krähen flogen auf, wenn unsere Unglücksschwester den Kopf hob.«
Wieder nahm Thade das
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