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Whiskey für alle

Whiskey für alle

Titel: Whiskey für alle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John B. Keane
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galt, stimmte aber auch rein gar nichts. Die Nacht schritt voran, Schweißperlen standen ihr im Gesicht. Aber sie gab nicht auf, und langsam, aber sicher nahm ein Meisterstück Form an. Eine leichte Erregung erfasste sie, als ihr aufging, dass das, was unter ihren Händen entstand, das Herzstück in dem Mosaik ihres künstlerischen Schaffens werden könnte. Nach fast drei Stunden unermüdlicher Arbeit hatte sie das Unmögliche vollbracht. Triumphierend saß sie auf der Bettkante der Toten. Das erste Mal in ihrem Leben genoss sie den Rausch umfassender künstlerischer Befriedigung.
    »Das ist nicht unsere Schwester«, murmelte Donal Fizzell völlig verblüfft.
    Thade stand wie angewurzelt da und fand erst nach einer Weile seine Stimme wieder. »Doch, es ist unsere Schwester. Vielleicht hätte sie schon vorher so aussehen können, wenn Gott es gefallen hätte.«
    Von dem Augenblick an, da sich die Augen der Eheleute getroffen hatten, war sich Jack O’Dea bewusst, dass Außergewöhnliches geschehen war. Als er die Leiche betrachtete, spürte er etwas von dem Hochgefühl, das seine Frau erfasst hatte. Auf dem Bett vor ihm lag eine der schönsten Frauen, der er je begegnet war. Das Gesicht, einst die reinste Farce, glich jetzt dem eines Engels, die scharfen Konturen waren wie von Zauberhand zu weichen Linien geformt. Die Fizzell-Brüder hatten sich auf Stühle gesetzt und trauten ihren Augen kaum, schauten wie gebannt auf die vor ihnen liegende betörende Gestalt. Ab und an schüttelten sie den Kopf oder wechselten stumm fassungslose Blicke. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, man hätte auch keine Worte finden können, die Dousies Wunderwerk gerecht geworden wären. Die einzigen treffenden Worte wären vielleicht »wie lebendig« gewesen, denn nie hatte Jule Fizzell lebendiger ausgesehen als jetzt auf dem Totenbett. Zu ihren Lebzeiten hatten Männer ihren Blick von ihr abgewendet. Jetzt im Tod würde ihr Blick ein zweites Mal auf ihr haften bleiben, und auch später, wenn die Erde sie aufgenommen hatte, würde man sich an die betörende Schönheit erinnern. Lange saßen die Brüder wie hypnotisiert, bis sie endlich tätig wurden. Die Totenwache wollte bedacht sein, der Leichenbestatter benachrichtigt werden. Es galt, Getränke aus dem Dorf heranzuschaffen. Lebensmittel mussten gekauft werden, die Verwandtschaft war zu benachrichtigen. Keines der tausend kleinen Dinge, die eine würdige Totenwache ausmachten, durfte vergessen werden.
    In der Gemeinde von Tanvally gab es nächtliche Ereignisse, die jedem in Erinnerung waren. Dazu gehörten zum Beispiel die Nacht mit dem großen Wind und die Nacht mit Horans letztem Zaunkönigtanz. Als ähnlich denkwürdiges Ereignis sollte fortan Jule Fizzells Totenwache gelten. Die Trauergäste strömten von nah und fern herbei. Allein, zu zweit und in hellen Scharen kamen sie, um das Fizzell-Phänomen zu sehen. Wer sie persönlich gekannt hatte, war von ihrer Verwandlung ergriffen. Wer nur aus purer Neugierde gekommen war, spendete überschwänglich Lob. Niemand konnte sich erinnern, eine Leiche von so viel Liebreiz und Lebendigkeit gesehen zu haben. Die Totenwache war von Anbeginn ein Erfolg. Hatten die Brüder ursprünglich befürchtet, sie würde eine einzige Peinlichkeit sein, verhalf ihnen jetzt die verschiedene Schwester zu Ehre und Ruhm. Sie wankten zwischen Küche und Sterbezimmer hin und her, nahmen Beileid und Anerkennung entgegen. Mitten im Begängnis schien die Getränkeversorgung gefährdet. Rasch wurde ein Bote ins Dorf geschickt, um eine weitere Bestellung im gleichen Umfang in Auftrag zu geben. Die Lieferung erfolgte prompt. Dem Gastwirt wurde nahegelegt, sich bereit zu halten, falls erneuter Nachschub nötig werden sollte. Thade und Donal Fizzell waren entschlossen, das Ereignis zu einer denkwürdigen Nacht werden zu lassen. Nachbarn wurden beauftragt, dafür Sorge zu tragen, dass kein Glas lange leer blieb. Ohne Unterlass wurden Tee und Häppchen gereicht. Um Mitternacht passten keine weiteren Gäste mehr ins Haus. Einziges Gesprächsthema war die Leiche. Man schwärmte von ihr in Superlativen. Hartgesottene Subjekte, die bei früheren Totenwachen mit Müh und Not ein einziges Gebet gestammelt hatten, verharrten jetzt lange auf den Knien und konnten ihren Blick nicht von der Bahre lassen, auf der das lieblichste Geschöpf lag, das ihnen je begegnet war. Viele der Gäste gingen sogar mehrere Male in den Totenraum, und das waren die, die beim ersten Mal ihren Augen nicht

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