Whisper (German Edition)
Pferdes. Nimm nur den Blick. Ich werde bei dir sein, Jasmin.
Die Stimme verschwand aus ihrem Kopf. Jasmin spürte, wie ihr gesamter Körper bebte, wie ihr schlagartig kalt geworden war, und wie die Tränen in Strömen über ihr Gesicht liefen. Sie spürte Whisper so deutlich wie noch nie, als ob sie direkt neben ihr stehen würde. Nur der Blick des Pferdes. Jasmin kannte Whispers Blicke. Tief und beruhigend kamen sie herüber und sie erinnerte sich an den klitzekleinen, silbernen Punkt in ihrem linken Auge. Etwas, über das sie gelacht hatte, als sie es zum ersten Mal gesehen hatte und was dann so vertraut geworden war. Whispers Blick war nie ängstlich, erschreckt oder gebrochen gewesen. Ihr Vertrauen und die Liebe in den Menschen, der für sie das war, war unerschütterlich gewesen. Nur der Blick des Pferdes. Jasmin putzte sich ihr Gesicht am Ärmel ab und befahl ihrem Inneren eindringlich sich wieder zu beruhigen. Whisper gab es nicht mehr, zumindest nicht real, und diese wundervolle Stute, die sie immer und immer wieder in ihrem Unterbewusstsein begleitete, würde irgendwann wieder den Wald betreten und verschwinden. Jasmin griff einmal mehr nach dem Kopf des Tieres, die ihn ihr willig zuwandte. Keine Berührung war hart oder hektisch, aber dafür mit einer Intensität behaftet, die in Worte kaum zu fassen war. Es war, als würde etwas Besonderes von dem Pferd ausgehen und auf Jasmin hinübergleiten.
Noch einmal wischte sie über ihr Gesicht, strich ihre Haare nach hinten und streifte dabei das linke Auge der Stute. Jasmin sah nicht genau hin … stockte für Sekunden. War da was gewesen? Hatte sie etwas übersehen? Vorsichtig holte sie sich den Blick, sah genau und direkt hinein und erkannte … ein feines, silbernes Blitzen. Das Mädchen versteifte sich, hielt inne, suchte und fand. Noch einmal kam dieses Blitzen aus dem Auge, ganz kurz, kaum wahrnehmbar. Jasmin vertiefte ihren Blick. Es war diese seltsame Ruhe, die ihr entgegen strahlte, diese Wärme, die ihr so bekannt war und … Jasmin schluckte hart. Da gab es diesen kleinen silbernen Punkt, genau da, wo ihn Whisper besessen hatte. Nur der Blick des Pferdes. Jasmin schluckte nochmal, merkte, dass ihr die Spucke weggeblieben war, horchte in ihr Inneres, holte sich Whispers Bild vor Augen. Eine lackschwarze Stute, voller Adel, mit weichen Konturen, ohne Ecken, ohne Kanten, und dann nahm sie das Bild, welches sie verfolgte. Das Bild des Palominos, vorne zweimal weiß gefesselt, hinten zweimal weiß gestiefelt, mit einer Blesse, die zwischen den Augen begann, über den Nasenrücken verlief und sich über die rechte Nüster erstreckte. Ein gemaltes Pferd, welches ganz echt neben ihr stand, welches es gab … Jasmin nahm beide Bilder und legte sie übereinander. Abermals schloss sie die Augen und erkannte, wie die beiden Bilder ineinander verschmolzen. Zuerst erkannte sie Whisper, wie sie auf der Wiese während ihres Traumes zu ihr gekommen war und ihr von ihrer Welt erzählt hatte, und dann sah sie die goldene Stute, von Kinos Großvater Mystery genannt, wie sie ebenfalls über die Wiese auf sie zukam, und sie sanft berührte. Whispers Bild verschwand wieder und zurück blieb die goldene Mystery, die gleichen Konturen, derselbe Körper, derselbe … Blick!
„Whisper!“ Es war nur geflüstert, mehr brachte Jasmin nicht zustande, denn erneut übermannte sie eine Tränenflut, die mit einem Erbeben ihres Körpers einherging. Jasmin ging in die Knie, spürte, wie das Pferd den Kopf senkte und sie mehrmals heftig anstieß, sodass sie den Kontakt nicht unterbrach. Aber Jasmin konnte fast nicht mehr. Die Erkenntnis, die Tatsache … Whisper hatte nicht gelogen. Sie hatte sie in ihren Träumen nicht belogen. Sie war da, immerzu, näher als sie je vermutet hatte und jetzt … das goldene Pferd, dieses fremde Wesen, das gab es doch gar nicht. Wieso konnte Whisper im Körper dieses Pferdes … weiterleben. Wieso …? Jasmin schaffte es nicht mehr, den Kontakt zu der Stute aufrecht zu erhalten, sondern klappte zusammen, grub ihr Gesicht in die Hände, kümmerte sich nicht um den Dreck, in dem sie hockte, sondern weinte, still, unaufhörlich, kaum in der Lage, diese Tatsache in sich aufzunehmen. Es war als hätten fremde Mächte voller Wucht in ihren Körper eingeschlagen, ohne darauf Rücksicht zu nehmen, ob sie in der Lage war, es zu ertragen oder nicht.
Jasmin bekam nur am Rande mit, wie jemand zu dem Pferd sprach, in einer Sprache, die sie nicht verstand. Und sie
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