Whisper (German Edition)
Wesen, das jetzt vor ihr stand und sanft an ihren Fingern leckte. Ihre Bewegungen, ihr Geruch … Ganz langsam stand Jasmin auf und ließ ihre Hände unter die Mähne gleiten. Vorsichtig beobachtete sie das Tier, ob es erschrecken und weglaufen würde. Aber ihr Blick war ruhig und die Haltung entspannt. Unter der Mähne war es warm und vertraut. Die Haare kitzelten auf ihrer Haut. Jasmin ließ ihre Handflächen über den Hals gleiten und strich in weiterer Folge über den Rist, die Schulter und den Rücken des Pferdes. Die Stute rührte sich nicht. Ganz im Gegenteil. Jasmin hatte das Gefühl, als ob sich das Tier entspannen würde. Irgendwann sah sie sogar zu ihr zurück, was Jasmin veranlasste, wieder zu ihrem Kopf zu treten. Das Tier stieß sie sanft an, um dann den Kopf in ihre Arme gleiten zu lassen. Eine wahre Welle an Emotionen glitt durch den Körper des Mädchens. Sie hatte es so sehr gemocht. Whisper hatte es so oft getan, einfach ihren Kopf in ihre Arme gesteckt und sich sanft an den Ohren kraulen lassen. Auch jetzt kraulte Jasmin die Ohren der Stute. Sie gab ihr so viel Kraft, soviel Vertrauen. Es war als würde … Jasmin schloss die Augen und Erinnerungen glitten vor ihr geistiges Auge. Whisper hatte sie immer betastet, beschnuppert, die Lippen auf ihr spielen lassen. Gemeinsam hatten sie Momente des Streichelns und des gegenseitigen Vertrauens genossen. Jasmin hatte sie gerne gespürt, die Wärme gefühlt, die Nähe des Tieres aufgenommen, die Bewegung ihrer Muskeln gefühlt, ihren Geruch wahrgenommen, und das warme Wesen als ihren Fels in der Brandung in sich aufgenommen. Whisper hatte ihr alles gegeben. Gesellschaft, Trost, sie hatte ihr zugehört, hatte ihr Geborgenheit vermittelt und ihr das gegeben, was sie auch jetzt noch so fest mit ihr verband. Die tiefe innere Liebe. Jetzt war sie nicht mehr. Whisper war gegangen, war von einem Tag auf den anderen aus ihrem Leben gewichen. Sie würde sich zu sehr an das Tier binden, sich zu sehr in das Pferd hineinleben und dabei die Realität vergessen. Nein, man hatte es nicht zu ihr gesagt. Irgendwann hatte sie es gehört. Und es war ihr unmöglich gewesen, es zu verhindern. Hilflos hatte sie ihm Krankenhaus gelegen, umgeben von Schwestern, Ärzten, Therapeuten, Menschen vom Jugendamt, und alle wollten sie ihr helfen, waren nett, freundlich, aber keiner, niemand von all denen gab ihr das, was Whisper ihr gegeben hatte. Whisper! Whisper, ich vermisse dich so sehr! Jasmins Atem zitterte. Sie spürte eine heiße Träne, die ihren Weg über ihr Gesicht fand. Sie griff danach, fegte die Träne weg und berührte eine ihrer Narben, blieb daran hängen, befühlte sie eingehend. Man hatte nicht nur ihr Gesicht zerschnitten, sondern auch das, an was sie geglaubt hatte. Sie hatte immer an das Gute geglaubt, an die Menschlichkeit, an die Tatsache, dass die Zeit alle Wunden heilen müsste, an die Zukunft, die immer besser werden würden. Es hatte vielleicht fünf Minuten gedauert, eine Einstellung zu vernichten. Wie lange hatte es wohl gedauert, den Entschluss zu fassen, Whisper zu vernichten? Einen Tag, zwei? Wie lange hatte es gedauert, sie zu verladen, wegzubringen und zu töten? Drei, vier Stunden?
Unbewusst lehnte sich Jasmin an die goldene Stute, ohne daran zu denken, dass dieses fremde Tier gerade erst ihre Nähe gesucht hatte. Aber das Pferd ließ geschehen, was geschah, ließ zu, dass Jasmin ihren Kopf fest umgriff und ihr Gesicht in die Mähne steckte. Sie fühlte die Nähe Whispers so sehr. Die Kraft, die sie ihr immer gegeben hatte. Das warme Gefühl, wenn sie sie berührt hatte. Whisper, warum hat man uns das nur angetan? Was haben wir beide verbrochen? Ich habe das so nie gewollt. Ich wollte dich schützen, dich pflegen, dich lieben, bis du bereit für die Regenbogenbrücke gewesen wärst. Wieso so? Wieso dieser Weg? Wieso bestimmen andere über Leben und Tod? Wieso sagen dir andere, was du lieben darfst und was nicht? Weitere Tränen suchten sich ihren Weg hinaus ins Freie. Es waren jene stummen und stillen Tränen, die Jasmin ohne äußerliche Regung zu weinen imstande war. Tränen der tiefen Verzweiflung und der Verständnislosigkeit.
Es war nie deine Schuld, Jasmin.
Das Mädchen schluckte, hielt kurz inne, fasste in die weiße Mähne, hielt sich daran fest.
Du bist stärker als du denkst, Jasmin. Du hast die Gabe zu glauben, zu sehen, wo andere längst hohe Mauern gebaut haben. Vertrau dir selbst. Und wenn du zweifelst, dann schau in das Auge des
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