Whisper (German Edition)
bemerkte auch kaum, wie sie hochgehoben und durch den Wald getragen wurde. Sie war irgendwie weggetreten, fern jeder Realität, irgendwie zwischen dem Diesseits und dem Jenseits, nicht in der Lage zu erfassen, was ihr zugetragen worden war. Die Unwirklichkeit ihrer Träume und Zeichnungen war in die Wirklichkeit gerollt.
Der Indianer trug sie wieder in den Wohnraum, setzte sie auf die Couch, legte eine Decke um ihren kalten Körper und sagte einige Worte zu ihr, die sie nicht aufzunehmen imstande war. Dabei glitt er ihr mehrmals übers Haar, bevor er sich neben sie setzte und ihr ein Taschentuch entgegen hielt. Jasmin nahm es entgegen und wischte sich die feuchten Spuren aus ihrem Gesicht. Sie schämte sich. Schämte sich zutiefst mehr oder weniger erwischt worden zu sein. Sie hatte sich gehenlassen, hatte sich nicht zusammengerissen, weil sie geglaubt hatte, mit sich und der Welt allein zu sein.
Verlegen sah sie zur Seite, um sofort den Blick wieder zurückzuziehen.
„Das muss bescheuert aussehen“, brachte sie leise hervor, wohl wissend, wie das wirken musste. Kinos Großvater fand sie vollkommen aufgelöst und heulend vor den Füßen eines Pferdes, welches sie … Jasmin hielt abermals inne. Der Grund ihres Zustandes, eine Tatsache, die sehr weit hergeholt war.
Kinos Großvater griff ihr auf die Schulter, wodurch sie ihn wieder ganz leicht von der Seite her ansah.
„Es ist nicht meine Aufgabe zu beurteilen, ob es bescheuert ausgesehen hat oder nicht. In den meisten Fällen sehen Menschen etwas mitgenommen aus, wenn ihnen ein Geist erschienen ist.“
Ein Geist? Jasmin bezweifelte, dass es sich um einen Geist gehandelt hatte. Die Stute war sehr real gewesen und in ihr wohnte … Ja doch, in ihr wohnte der Geist Whispers.
„Ich habe sie gesehen!“, erklärte sie stockend, und als sie abermals einen Blick zur Seite warf, erkannte sie, dass der Mann lächelte.
„Hat sie einen Namen?“, fragte er sanft und Jasmin konnte nicht anders als ihr Gesicht wieder zu verstecken.
„Whisper!“, kam es leise zurück. „Sie lebt in dem Pferd. Sie lebt in diesem Körper!“
Der Mann strich ihr sanft über den Rücken.
„Ich weiß!“, erklärte er ruhig und Jasmin wurde sich darüber klar, dass es keine Fantasie war, dass sie nicht langsam verrückt wurde, und dass ihr dieses Zugeständnis keine weiteren Therapeuten bringen würde, die ihr versuchten auszureden, was sie so gern glauben wollte.
„Ihre Seele ist gewandert!“, bemerkte sie vorsichtig und der alte Mann fühlte, wie sie begann den Geschehnissen, den Bildern die sie sah, und vielleicht auch ihm, etwas mehr zu vertrauen.
„Du beweist sehr viel Mut, es nicht nur zu erkennen, sondern auch zuzugeben. Es passiert nicht oft, dass Seelen sich nicht zur Ruhe begeben, sondern wandern und sich einen Körper suchen, in den sie schlüpfen können. Es sind große Mächte zuständig, die das zulassen. Und es passiert noch viel seltener, dass sie sich zu erkennen geben. Menschen werden oft mit Wesen konfrontiert, an denen sie etwas Vertrautes finden, an das sie sich hängen, aber sie erkennen nicht. Die großen Mächte wollen nicht, dass man erkennt. Aber du siehst Dinge, die niemand sieht, du hörst, wenn alles leise ist und du glaubst daran. Deine tiefe Liebe zu Whisper ist es, was sie am Leben erhält. Mystery ist ein gutes Pferd. Niemand weiß, wo sie hergekommen ist, und wie sie mit Whisper zusammenkam. Aber Whisper hat diese Möglichkeit genutzt, dir nahe zu sein. Bleib offen für die Zeichen, die Mächte meinen es sehr gut mit dir, aber sie können dir nur helfen, wenn du sie lässt. Verschließt du dich vor ihnen, werden sie sich auch vor dir verschließen und dein Leben wird weitergehen, wie es bisher der Fall gewesen ist.“ Er machte eine kurze Pause, nahm noch eine zweite Decke und legte sie ebenfalls um sie. „Kino hat vom ersten Augenblick an erkannt, dass du ein ganz besonderer Mensch bist. Du hast ihn über deine Tränen in deine Seele blicken lassen. Kino ist ein sehr sensibler Mensch. Er liebt das alles hier. Seine Ranch, die Wildnis, dieses Land, er liebt es vielleicht auch, ein bisschen anders zu sein. Er hat die Gabe, Dinge zu spüren, die sonst niemand spürt. Er respektiert die Mächte, achtet die Zeichen, und würde nie schamlos sein Umfeld ausbeuten. Ich glaube zu wissen, dass die Liebe nun ein weiteres wichtiges Detail für ihn bekommen hat. Es hat ganz bestimmt seinen Sinn, warum du ausgerechnet hierhergekommen bist, warum du hier
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