Whisper (German Edition)
nicht über die Tatsache hinweghalf, dass ihr linker Fuß in einem Schlageisen steckte. Die Bügel waren glatt, nicht gezackt, hatten sich aber trotzdem fest um Judiths Bein geschlossen, die Haut durchschlagen, sich ins Fleisch gegraben und hielten sie fest. Das Bein war stark geschwollen und die Wundränder sahen alles andere als appetitlich aus. Das Mädchen musste höllische Qualen durchstehen. Ihre Gesichtsfarbe war weiß, Schweißperlen standen auf ihrer Stirn und sie war mehr benommen als anwesend.
Jasmin kniete neben ihr nieder. Vorsichtig schob sie den Stoff der Hose etwas nach oben und allein diese Berührung löste ein heftiges Stöhnen und Jammern aus.
„Sie ist einfach reingetreten. Gestern Abend. Und sie hat ganz furchtbar geschrien“, erklärte Edith hastig. „Wir haben versucht, sie zu befreien, aber das Eisen war nicht aufzubekommen und ist zudem am Baum festgekettet. Wir konnten sie hier schlecht zurücklassen.“
Christina kniete sich auf der anderen Seite zu Judith und griff nach ihrer Hand, streichelte über ihre Finger.
„Jasmin“, wisperte sie leise, hob den Kopf und wartete, bis ihr Gegenüber den Blick auf sie richtete. „Bitte … es tut mir leid, was ich jemals zu dir gesagt habe. Aber bitte hilf ihr. Bitte bring uns hier raus. Ich habe Angst, dass sie stirbt.“
Abermals stöhnte Judith heftig auf und öffnete dabei etwas die Augen. Ihr Blick war glasig und schmerzverzerrt. Jasmin starrte nochmals auf die Falle und auf die Kette, die zum Baum führte und dort befestigt worden war. Stark genug, um einem kämpfenden Bären standzuhalten. Was sollten da ein paar Jugendliche ausrichten? Jetzt erfuhr ein Mensch am eigenen Leib, wie es war, in eine Tierfalle zu treten. Aber Judith war eindeutig das falsche Probierobjekt.
„Kommt noch jemand!“ Es dauerte eine Weile bis Jasmin die Frage hörte und zu Markus aufsah. „Ich meine, wie konntest du so schnell hier sein? Wir sitzen seit gestern Abend fest, sind allein, meilenweit von der Ranch weg. Wie konntest du uns so schnell finden?“
Jasmin studierte seine Augen, bevor sie Richtung Tom nickte, der etwas weiter abseits an einigen Zweigen knabberte.
„Das verdankt ihr dem Wesen, den die Indianer Großen Geist nennen. Sie haben Tom dazu bewogen, zur Singing Bird Ranch zu laufen. Er ist mitten in der Nacht dort angekommen. Mit Taps, der aber gestorben ist, nachdem wir ihn gefunden haben. Kinos Großvater hat den Wildhüter und die Polizei alarmiert, nachdem Susanna gesagt hat, dass sie niemanden via Funk erreichen kann. Sie wollen bis zum Morgengrauen warten, da eine Suche in der Nacht hoffnungslos ist. Tom hat mich allein hierher gebracht.“
„Das Pferd?“ Markus sah sie ungläubig an. „Und Taps war bei ihm? Weiß Kinos Großvater, dass du losgeritten bist?“
Jasmin schüttelte den Kopf.
„Nein, er hat keine Ahnung. Vielleicht bin ich etwas vorschnell auf Tom gestiegen. Man hätte es mir wahrscheinlich verboten, wenn ich etwas gesagt hätte. Niemand von denen weiß, wo ich bin und wo ihr seid. Sie wissen es!“
Dabei deutete sie auf die Raben, die ganz in ihrer Nähe wieder auf einem Ast Stellung bezogen hatten, und die Situation ganz genau überwachten.
„Die schwarzen Vögel da?“ Patrick deutete mit dem Finger auf sie. „Was nutzen uns die?“
Jasmin sah sich die Falle etwas genauer an, suchte die Spannfeder, den Mechanismus und dachte über eine Möglichkeit nach, sie aufzubekommen.
„Sie nutzen uns vielleicht mehr, als du glaubst. Ohne sie wäre das Kitz neben seiner toten Mutter verhungert. Erinnerst du dich nicht mehr?“
„Das war Zufall!“, bekam Jasmin zur Antwort.
„Und als sie dich daran gehindert haben, in den Wald zu gehen? Auch Zufall?“
Edith sah mit Ehrfurcht zu den beiden Vögeln zurück. Markus schwieg. Mit Schaudern erinnerte er sich an die seltsamsten Minuten in seinem Leben. An den Moment, wo er wirklich unheimliche Angst verspürt hatte.
„Wir müssen ihr Bein da rausholen und sie zur Ranch schaffen.“ Jasmin senkte den Kopf. Sie brauchte eine Idee. Eine wirklich gute Idee, um das Schlageisen zu öffnen. Und es musste schnell gehen, um Judith unnötige Qualen zu ersparen.
„Und wie sollen wir die Ranch wiederfinden? Wir sind hier mehr oder weniger in der Wildnis ausgesetzt worden!“
Jasmin sah in Patricks zweifelndes Gesicht.
„Ich habe euch gefunden, weil ich jemanden hatte, der mich leitete. Jetzt ist es hell. Sobald wir den Wald verlassen, orientieren wir uns an den Bergen.
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