Whisper (German Edition)
Wenigen, die wirklich etwas sahen, was nicht erklärbar war … Jasmin wagte zu wetten, dass diese Leute damit hinterm Berg hielten, um nicht für bescheuert erklärt zu werden. Sie selbst hatte ihrem Therapeuten gegenüber erwähnt, den Geist Whispers spüren zu können. Man hatte es mit vorübergehender Trauer betitelt und gemeint, es würde vorbeigehen. Jasmin hatte sehr schnell aufgehört, sich darüber zu äußern, um ihren Gedanken frei nachhängen zu können. Was war freier, als ein Gedanke. Es war verwerflich, tiefe Liebe für ein Tier zu empfinden und sie der Liebe des Menschen vorzuziehen. So hatte es zu sein, so war es ihr beigebracht worden. Dabei gab es so viele Zeichen, Hinweise und Eingebungen, denen man folgen konnte. Zweifelte man, hatten diese Zeichen, Hinweise und Eingebungen keine Chance und verkümmerten. Man war viel zu unsicher, verließ sich nicht, vertraute nicht. Jasmin hatte immer fest an Whisper geglaubt, weil sie das einzige Lebewesen war, dem sie, nach dem Tod ihrer Mutter, jemals Liebe geschenkt hatte. Und sie hatte auch nach ihrem Tod fest an sie und an ihre Stimme geglaubt, genauso wie an die Bilder, die in ihrem Kopf entstanden waren. Niemand sollte ihr vorschreiben, wen oder was sie zu lieben hatte und wem sie ihre Zuneigung geben wollte.
Jetzt hatte sie gezweifelt. An der Richtigkeit ihres Tuns. Hatte dem nachgegeben, was andere gesagt hatten. Die anderen waren nicht wichtig. Wenn sie an dem festhielt, was sie bisher geleitet hatte, brauchte sie nicht zu zweifeln.
Jasmin sah die Stute etwas betreten an.
„Ich glaube, ich habe verstanden. Tom wird mir weiterhin helfen, … wenn ich ihn lasse!“
Die Stute rieb ihren Kopf an der Schulter des Mädchens. Zärtlich, voller Liebe, Dankbarkeit und Vertrauen. Wie schwer es doch war, genau das aufrechtzuerhalten.
Plötzlich hob die Stute den Kopf, sah Jasmin nochmals kurz an, trat zurück, wandte sich ab und trottete zurück in den Wald. Der schimmernde, goldene Körper mit der schneeweißen Mähne und dem strahlend weißen Schweif verschwand in den Büschen und ließ sie allein. Aber Jasmin fühlte sich nicht zurückgelassen. Sie hatte einen Schubs gebraucht. Einen Schubs, der zwar ihre Ängste und Sorgen nicht wegwischte, aber der dieses mächtige Selbstvertrauen wieder herstellte. Sie würde hier raus finden und Judith würde überleben, an etwas anderes brauchte sie nicht zu denken.
Jasmin kehrte zu Tom zurück. Der Wallach hatte sich eine junge Tanne vorgenommen und bis zum Stamm alle Zweige abgefressen. Noch immer kaute und schmatzte er an den grünen Ästen. Aus seinem Maul strömte der Geruch des würzigen Harzes.
„Heu haben wir hier nicht“, erklärte Jasmin, als sie wieder bei ihm war, „aber wenn wir wieder auf der Ranch sind, dann bekommst du es am goldenen Teller serviert.“
Kurz streichelte sie über seine Schulter, ließ ihn dann aber stehen, um sich zur Gruppe zu begeben. Judith hatte ihr Bein aus dem Wasser gezogen und diesmal hatte Markus sein T-Shirt für sie geopfert, es in Streifen gerissen und um ihre Verletzung gewickelt. Judith machte einen wesentlich besseren Eindruck als vorher.
Jasmin sah kurz auf das Bein. Die Schwellung war etwas zurückgegangen, trotzdem sah es noch immer furchtbar aus.
„Glaubst du, dass du noch etwas weiterreiten kannst“, fragte Jasmin, als sie sich neben sie gehockt hatte. Erstmals konnte sie direkt in die grau-grünen Augen des Mädchens blicken, die bisher nur darauf aus gewesen war, sie zu demütigen und auszulachen. Doch ihre flotten Sprüche waren ihr im Hals stecken geblieben.
„Ich glaube, ich habe keine Wahl“, meinte diese aufseufzend. „Haben wir noch lange zur Ranch?“
Jasmin nickte schwach.
„Ich fürchte ja. Wir kommen nicht allzu schnell voran. Du wirst also noch eine Weile durchhalten müssen?“
Sie sah, wie Judith schluckte.
„Schaffen wir es heute noch, oder auf was muss ich mich einstellen?“
„Auf eine Nacht im Freien!“ Jasmin war ehrlich. Was nutzte es, dem Mädchen etwas vorzumachen. „So schnell wird man uns nicht finden.“
Judith musterte sie eingehend. Vermutlich hatte sie dieses für sie erschreckende Gesicht noch nie so genau angesehen und Jasmin hielt gewollt diesem Blick stand.
„Wieso sprichst du jetzt mit uns, ich meine, mit mir. Du hättest allen Grund …“
„Du bist verletzt und du brauchst Hilfe“, unterbrach Jasmin sie. „Jetzt zu schweigen bringt uns nicht weiter. Ihr müsst mich akzeptieren, so wie ich bin.
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