Whisper (German Edition)
Wie ich aussehe, wisst ihr alle. Das ist kein Schock mehr. Es liegt nicht in meiner Natur, jemanden liegenzulassen, der meine Hilfe braucht, egal, was er mir angetan hat. Wenn du willst, kannst du mich wieder anfeinden, wenn du in Ordnung bist. Ich werde mich dann einmal mehr zurückziehen und meinen eigenen Gedanken nachhängen.“
„Das wird nicht passieren, Jasmin.“ Beschämt senkte Judith ihren Blick. „Ich hatte Angst, gefangen in einer Falle und an einen Baum gekettet, zu sterben. Aber auf einmal warst du da. Hast du gerochen, dass wir alle Hilfe brauchen?“
Jasmin schüttelte den Kopf.
„Nein, Tom hat mich geholt. Er wusste es. Ich habe mich nur von ihm leiten, oder sagen wir, tragen lassen. Und jetzt werden wir uns abermals auf Tom verlassen. Er soll uns den richtigen Weg zeigen.“
Jasmin strich ihr kurz über den Oberschenkel und warf dann einen Blick auf die anderen, die dem Gespräch gelauscht hatten. Sie erwartete keine Reaktion, keine Antwort, keine Gegenmeldung und trotzdem war ihr, als würden dutzende, ungestellte Fragen auf sie einstürmen. Doch noch bevor irgendjemand ein Wort sagen konnte, zog ein dunkles, warnendes Grollen über den Himmel.
Jasmin lenkte ihren Blick automatisch nach oben und versuchte das Blätterdach zu durchdringen, aber man benötigte nicht viel Fantasie um herauszufinden, dass sich der Himmel langsam aber sicher mit dunklen Gewitterwolken zuzog.
„Wir sollten weiterziehen, solange es noch trocken ist.“
Das Mädchen zog den Reißverschluss ihrer Jacke etwas weiter zu. Ein unangenehm, kalter Wind kam allmählich auf und brachte das mit, was im Moment niemand brauchen konnte. Kälte und Regen.
„Ganz deiner Meinung“, kam es von irgendwoher.
Jasmin war mit wenigen Schritten wieder bei Tom, starrte auf den Sattel, den sie einfach auf den Boden fallengelassen hatte. Es bedurfte keiner weiteren Überlegung, denn wie ein Geist stand plötzlich Patrick neben ihr, schnappte das schwere Ding und trug ihn zum Pferd. Vermutlich dachten sie beide an die Szene im Stall, als Judith ihr den Sattel entgegen geknallt hatte. Niemand außer Kino hatte ihr damals geholfen und sie unterstützt. Vielleicht hätte man es tun sollen. Patrick wurde sich erst während des Tragens der Schwere des Sattels bewusst. Er hatte Jasmins Hände gesehen, wusste, wie es um ihre Kraft bestellt war. Sie konnte nichts dafür. Es war so. Und sie alle hatten daran vorbeigesehen, statt nur ein einziges Mal genau hinzuschauen. Jasmin war kein Mensch der jammerte. Aber sie hatte Grenzen, die es für andere nicht mal im Entferntesten gab. Er hätte schon damals über seinen Schatten springen und zugreifen sollen.
Jasmin legte die Satteldecken aufs Pferd, wollte Patrick beim Satteln irgendwie zur Hand gehen, doch dieser schob sie bewusst leicht zur Seite und verschloss den Sattelgurt. Er hatte es erst ein paar Mal gesehen, aber den Lederriemen durch die Ringe zu ziehen, war nicht weiter schwer. Jasmin überprüfte mit einem Finger die Festigkeit des Gurtes und übernahm das Aufzäumen. Auch diesmal waren ihre Handgriffe erfahren und routinemäßig. Erschrocken hielt sie inne, als sie plötzlich eine Hand auf ihrer Schulter spürte. Überrascht drehte sie sich um.
„Jasmin, ich weiß nicht, wie ich´s sagen soll“, Patrick wirkte etwas verlegen. Vermutlich hatte es ihn einen Meilenstein gekostet, ihr die Hand auf die Schulter zu legen, um so auf sich aufmerksam zu machen. „Ich glaube, wir alle haben dich von Anfang an nicht fair behandelt. Du hast mit deinen …“, man merkte, dass er das Wort nicht aussprechen wollte, weshalb er fahrig auf sein eigenes Gesicht deutete. „… du warst so anders. Wir alle haben uns erschrocken. Aber anstatt etwas nett zu sein, waren wir ohne Ausnahme ekelhaft zu dir. Die Tatsache, dass du nicht gesprochen hast, hat es nicht gerade besser gemacht. Heute weiß ich, warum dich Kinsky abgeschottet hat, warum Stefan dich in seinem Haus schlafen lässt und warum Kino dich bewacht, wie einen Goldbarren. Wir haben anfangs geglaubt, du seist was Besseres und würdest deshalb anders behandelt werden. Jetzt weiß ich, dass das alles nur wegen uns und unserer Unfähigkeit, dir anständig zu begegnen, gemacht worden ist. Wir hätten dir wahrscheinlich nie eine Chance gegeben, wenn uns das jetzt nicht passiert wäre. Es tut mir leid, Jasmin. Was die anderen machen, ist mir jetzt egal. Ich will meine Entschuldigung persönlich bei dir deponieren, weil sie für mich und mein
Weitere Kostenlose Bücher