Whisper (German Edition)
kam.
„Jasmin ist nichts passiert!“, bemerkte Kinsky etwas schroff, denn es missfiel ihm, dass man seine Heimat mit dem Titel „Endpunkt der Welt“ bezeichnet hatte, und es missfiel ihm noch viel mehr, mit welcher Unberührtheit der Mann auf Jasmins „Unfall“ hindeutete.
„Sie glauben demnach, dass der Aufenthalt in einer Großstadt wie München, in der Jasmin von jedem Zweiten angeglotzt wird, und sie eigentlich jedem Dritten eine Erklärung abliefern müsste, besser ist, als hier, wo sie sich unter Freunden ausleben kann und den Zugang zu Pferden wiedergefunden hat, die ihr die Stärke vermitteln, die sie braucht, um mit sich selbst klarzukommen.“
„Pferde?“ Der Mann lächelte selbstgefällig. „Verzeihen Sie, Pferde sind Tiere. Ja, ich gebe zu, man kann sie ganz gern haben. Mädchen in Jasmins Alter können einen pferdetechnischen Tick entwickeln, aber im Grunde sind es Tiere, keine Therapeuten. Zudem hat Jasmin aufgehört zu reiten und ich bezweifle, dass sie noch weiß, es jemals getan zu haben. Die Ärzte haben von einer mittelschweren Amnesie gesprochen. Das heißt, sie kennt den Großteil ihrer Vergangenheit gar nicht und soll sie auch nie wirklich kennenlernen.“
In der Küche wurde ein Topf heftiger als gewöhnlich abgestellt. Ein Löffel flog in die Abwasch und blieb dort scheppernd liegen. Kinsky kannte seine Frau. Sie war kurz vor dem Explodieren und reagierte sich gerade an ihrem Geschirr ab.
Er selbst beherrschte sich mit einem Aufatmen. Es musste wohl an Kunst grenzen, sich jetzt einfach nur zurückzuhalten.
„Was macht Sie eigentlich so sicher, dass sie wirklich nichts mehr von dem weiß, was sich abgespielt hat.“
Es war bewundernswert, mit welcher Ruhe Kinsky diese Frage stellte, wobei sich sein Gesichtsausdruck kaum veränderte. Er war die nackte Unversehrtheit.
„Die Ärzte haben es gesagt“, bekam er schnell zur Antwort. „Sie wissen ja, dass Jasmin nicht mehr spricht. Sie ist schwer zu handhaben und ziemlich in sich gekehrt. Dieses Verhalten wird von ihrem großen Gedächtnisverlust genährt. Die Therapeuten haben versucht, ihr darüber hinwegzuhelfen und Vergangenheitslücken zu akzeptieren. Aber es ist auch für sie schwer, an Jasmin heranzukommen, da sie sich nicht mitteilt und so tut, als würde sie die Sprache nicht verstehen. Aber ich denke, ich erzähle da nichts Neues.“
Kinsky vertiefte seinen Blick und starrte in die grünen Augen des Mannes. So sah also ein Pflegevater aus. Ein Dad auf Zeit. Oh doch. Sie alle hatten Jasmin anfangs kennengelernt, was in etwa dem entsprochen hatte, was dieser Mann jetzt so von sich gab. Therapeuten gab es hier nicht und von einer Amnesie wusste niemand etwas. Dinge, die nicht weiter wichtig waren, denn man hatte Jasmin auf Six Soul so aufgenommen, wie sie war, und nicht versucht Rückschlüsse zu ziehen. Ihre Seele hatte genug gesprochen, allein das zählte, und dieser Mann glaubte das, was ihm andere erzählt hatten. Aber andere waren nicht Jasmin, und ihr zuzuhören, war wohl mächtig ins Abseits gerutscht.
„Nein, was Sie mir erzählen, ist wahrlich nichts Neues!“ Kinsky nahm die beiden dampfenden Kaffeebecher entgegen und stellte sie auf den Tisch, holte dann noch den Zuckerstreuer und die große Milchkanne. Einige Löffel, aufgehoben in einer Tasse, standen sowieso am Tisch. Das Ehepaar bemerkte die Ironie in seiner Stimme nicht. „Aber vielleicht darf ich Ihnen jetzt etwas Neues erzählen?“
Der Mann sah auf. Hatte er mit Neuigkeiten gerechnet? Seinem Blick nach zu urteilen eher nicht.
„Es gibt etwas Neues rund um Jasmin? Hat sich ihr Zustand verschlechtert?“
Es waren mehrere Gabeln und Löffel, die diesmal laut scheppernd in die Abwasch flogen. Kinsky warf nur einen kurzen Blick in die Küche und sah seine Frau einen Kuchen schneiden. Die Art, wie sie die Schnitte führte ... gedanklich lag vor ihr kein Kuchen!
„In der Regel kommen Jugendliche nicht auf die Six Soul Ranch, damit sich deren Zustand verschlechtert …“
„Was bei dem jungen Mädchen namens „Judith Tipalo“ wohl eher nicht zutrifft, denn von ihren Eltern haben wir erfahren, dass …“
„Würden Sie mich vielleicht ausreden lassen, Mr.Devot!“
Kinsky hatte seine Stimme verschärft, sodass der Mann zwar seinen Blick hob, aber doch verstummte.
„Es stimmt schon, Judith ist in eine Bärenfalle geraten. In ihrer Stadt namens München hätte sie auf der Straße überfahren werden können, oder man hätte sie in der U-Bahn
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