Whisper (German Edition)
dem lindgrünen Kostüm neben ihrem Mann definitiv nicht viel zu sagen hatte. Der Mann war es wohl gewohnt, Befehle zu erteilen, Autorität zu versprühen, und schien auch normalerweise seinen Willen zu bekommen. Die Tatsache, dass er hier an seine Grenzen stieß, schien etwas Neues für ihn zu sein.
Susanna wandte sich mit einem freundlichen Lächeln an die Frau.
„Ich bin mir ganz sicher, dass wir warten sollten. Machen Sie sich keine Sorgen. Kino ist hier zuhause und Jasmin kennt die Wälder mittlerweile sehr gut. Zudem hat sie das schwarze Pferd Tom, und der findet immer den Weg nach Hause.“
„Und wenn sie abgeworfen wird?“
Wieder lächelte Susanna zuckersüß.
„Dann wird Tom warten, bis sie wieder aufgestiegen ist.“
20
E s war, als hätte eine innere Schranke jeden Gedankengang in Jasmin blockiert. Völlig überhastet stürzte sie über die Veranda, jagte über den Hof und polterte in den Stall, zu der Box, in der Tom stand und sein Heu fraß. Das Tier hob sofort den Kopf, als er sie heranstürmen sah, spitzte die Ohren, doch Jasmin hatte keine Zeit für Liebkosungen oder freundliche Worte. Sie schnappte sein Zaumzeug, zäumte das Tier überhastet auf und kletterte von der Boxenwand auf seinen Rücken. Ohne ihn groß zu lenken, trat Tom aus der Box, trabte zur Stalltür und war schon im Galopp Richtung Wald unterwegs, als die Kids bemerkten, was Jasmin tat. Oh ja, sie hörte die Rufe, auch die Aufforderung sie solle stehenbleiben, aber es interessierte sie nicht. In Strömen liefen die Tränen über ihr Gesicht, sodass sie die Bäume nur verschwommen wahrnehmen konnte. In ihrem Inneren wirbelte ein heftiger Orkan alles durcheinander, ihre Gefühle, die Freiheit, die sie hier empfand, die Sorglosigkeit, das Glück, es wurde gerade eingestampft. Sie sah die Gesichter ihrer Pflegeeltern, hatte das Haus in München vor Augen, den kleinen Garten, die vielen Straßen, den Lärm, die Autos, die Menschen, die sie mit seltsamen Blick anstarrten, den Gestank, die wenigen Tiere, die es gab, all das dominierte ihre Gefühlswelt und sie fühlte sich schrecklich. Tom jagte mit ihr durch den Wald. Das Ziel - unbekannt, zumindest für ihr Bewusstsein. Es war ihre Hand, die automatisch lenkte. Sie schluchzte heftig, immer wieder, und kaum hatte sie sich etwas beruhigt, überfiel sie eine neue Welle der Tränen, aus der sie sich kaum erretten konnte. Sie zitterte, ihr war kalt, teilweise übel, ihr Magen krampfte, und irgendwann blieb sie tatsächlich stehen, um sich keuchend zu übergeben. Sie fühlte, wie ihr Kreislauf absackte. Schwindelgefühl überkam das Mädchen und sie bemerkte deutlich den aufkeimenden Willen, einfach nicht mehr weitermachen zu wollen. München! Es war so weit weg und sie wollte die Wildnis nicht mehr verlassen. Ihr Glück, es hatte sie wie einen Mantel umgeben, den man ihr gerade vom Körper gerissen hatte. Sie würde es nicht mehr schaffen in München zu leben und zu überleben. Gott, warum konnte es nicht anders sein? Warum konnte man sie hier draußen nicht einfach vergessen.
Jasmin legte sich über Toms Hals und hielt sich mit den Armen fest. Die Beine hingen irgendwo runter, der Zügel baumelte zu Boden. Das Tier stakste mit seiner Fracht vorsichtig weiter. An einen rasenden Galopp war nicht mehr zu denken. Vorsichtig setzte Tom einen Fuß vor den anderen, um das Mädchen nicht zu verlieren. Nicht einmal senkte er den Kopf, umging jedes Hindernis und passte darauf auf, dass der Körper auf seinem Rücken nicht ins Rutschen geriet. Er spürte ihr Zittern, spürte die Verzweiflung und hätte gerne das besessen, was die Menschen Sprache nannten. Aber die hatte er nicht. Er konnte nur für sie da sein, anwesend sein, ihr durch seine Körperwärme vermitteln, dass sie nicht allein war. Er würde ihr beistehen, bis zum Schluss, wann dieser auch kommen würde. Das war es, was er für sie tun konnte.
Jasmin achtete nicht mehr auf den Weg. Sie hielt die Augen geschlossen, fühlte noch nicht mal mehr die Tränen, die ihren Weg in die Freiheit suchten. Warum hatte ihr Vater damals nicht abgeschlossen, was er begonnen hatte? Warum hatte er sie nicht getötet? Warum war sie nicht im Krankenhaus verstorben? Warum musste sie das alles erleben, hier in Kanada, um dann festzustellen, dass alles nur ein Traum, eine Illusion war. Ihre Welt war München. Dort musste sie sein, dort sollte sie leben. Behütet von einem Ehepaar, das den Titel ´Eltern` trug, und zu denen sie keine Empfindung
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