Whisper (German Edition)
hatte. Es waren fremden Menschen, irgendwelche Leute, die nett waren, aber nett waren auch Nachbarn, Lehrer, Blumenverkäufer und Versicherungsvertreter.
Man hatte sie schmecken lassen, wie es war, wenn man vertrauen konnte und wenn es jemanden gab, den man mochte. Kino, Jaro, die Kinskys, die Gruppe, Kinos Großvater, Janina, Bobby, das war ihre Familie, Menschen, die sie gern hatte, die einen tiefen Platz in ihrem Herzen eingenommen hatten, denen sie vertraute, und die sie an sich heranließ. Warum musste sie das alles wieder aufgeben? Das war nicht fair! Es war einfach nicht fair!
„Jasmin!“
Ihre Augen brannten. Sie hatte bereits so viele Tränen verweint, schon vor Kanada. Sollte das jetzt alles wiederkehren? Würde sie wieder still irgendwo in einem versteckten Winkel sitzen, das Würgen im Hals verspüren, das elende Gefühl im Magen bemerken, wenn andere der Meinung waren, es würde ihr bereits etwas besser gehen.
„Jasmin!“
Sie würde es nicht durchstehen. Sie konnte es gar nicht schaffen. Es war unmöglich …
„Jasmin!“
Zum ersten Mal nahm das Mädchen die Stimme wahr und hob den Kopf. Ihr Gesicht war schmutzig und von Strähnen verklebt. Zaghaft wischte sie diese zur Seite und sah sich um. Tom war stehengeblieben. Wo war sie? Wohin hatte Tom sie gebracht? Jasmin schaute die Wiese entlang. Eine lange Wiese, überdeckt von vielen Wildblumen, kleine Büsche rankten dort und da aus dem Boden, um ihre Ästchen sanft im Wind zu wiegen. Vor ihr ein Hang. Von felsartigen Steinbrocken durchwachsen, von Moosen und Gräsern in ein einheitliches Bild aufgenommen. Jasmin kannte diesen Platz. Es war jene Wiese, auf der sie die Pferde schon einmal zurückgelassen hatte, um den Hang hochzuklettern und dann über die unendliche Weite des Tales zu blicken, welches sich vor ihnen erstreckt hatte. Ein Bild, welches sie nicht mehr so schnell vergessen würde. Auch nicht den Moment. Jener Moment, als sie, geleitet von einer inneren Eingebung, angefangen hatte, mit Kino zu sprechen. Es war sein Lieblingsplatz. Am Rand eines Abhanges, das Tal greifbar nahe und doch wieder so fern. Und hier auf der Wiese, wo die Bergblumen blühten, wo kleine Vögel tief über den Boden schwebten, um Insekten zu fangen, wo eine Aura herrschte, die die starke Kraft der Natur wiedergab, stand sie. Ihr Fell schimmerte golden, die Mähne und der Schweif glänzten weiß, und sogar ihre weißen Abzeichen an den Beinen schienen zu glitzern. Vorne zweimal weiß gefesselt, hinten zweimal weiß gestiefelt. Und sie blickte herüber zu ihr, sodass die schief verlaufende Blesse deutlich zu sehen war. Die Stute schnaubte sanft und schüttelte leicht den Kopf. Jasmin wischte sich über die Augen, um ihren Blick wieder etwas zu schärfen. Unbeholfen rutschte sie von Toms Rücken und trat an seinen Kopf. Tom schien ihr vorsichtiges Zögern und ihre Unsicherheit zu spüren, denn er war es, der sie deutlich in Richtung Stute schubste. Jasmin verhielt nur noch einen kurzen Moment, ließ aber dann den Zügel fallen, um auf das goldene Pferd zuzugehen. Die Stute registrierte mit einem Kopfschütteln das Tun des Mädchens, zupfte sich noch einige Grashalme aus, bevor sie bedächtigen Schrittes auf sie zukam. Ihr Blick war beruhigend, freundlich, ihre Art vertraut. Jasmin holte sich das Bild Whispers in ihren Kopf zurück. Die schwarze alte Stute, die ihr immer soviel Ruhe und Geborgenheit gegeben hatte, die ihre Jahre so unweit schöner gemacht hatte. Sie spürte diese tiefe Liebe, die sie für dieses Wesen empfunden hatte und immer noch empfand. Sie war unvergleichlich, umklammerte ihr Herz und gab ihr all jene Kraft, die sie schon damals gebraucht hatte, um zu überleben und um weiterzumachen. Whisper hatte immer diesen gütigen Blick, und die Aura, die von ihr ausging, war jene gewesen, die sie auch jetzt spürte. Es war Whisper. Whisper, die in dem Körper dieses Pferdes wohnte, und Whisper kam auch jetzt, um ihr beizustehen.
Jasmin fühlte, wie die Tränen einmal mehr in ihr hochstiegen und schließlich über ihr Gesicht strömten. Sie empfing das Pferd mit ihren Händen, spürte, wie sie ihren Kopf gegen sie drückte, so wie Whisper es immer getan hatte, sanft an ihr knabberte und sich dann leicht an ihr rieb.
„Gschschscht, Jasmin“ , hörte sie die feine Stimme des Wesens, „es wird alles gut werden. Ich weiß, du fühlst dich schrecklich. Ich kann es spüren.“
Jasmin schlang die Arme um den Hals des Pferdes und wühlte durch ihre Mähne.
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