Whisper (German Edition)
Stunden hätte er nie durchgehalten. Zum ersten Mal in seinem Leben war er geritten, und das freiwillig. Nicht etwa eine halbe Stunde lang, nein, ganze sieben Stunden hatten sie gebaucht, um die Pferde nach Hause zu bringen. Nach dieser Zeit wusste er, wie sich Pferde bewegten und auch, wie sich Muskeln anfühlten, von denen er gar nicht gewusst hatte, dass man sie besaß. Danach hatte er drei Tage das Gefühl gehabt, mit einem Fass zwischen den Beinen herumzulaufen. Schonung gab es keine. Schon am nächsten Tag stand Reitunterricht auf dem Programm, mit Beinen, die nicht gehorchen wollten. Das Reiten selbst … kein Problem mehr. Der Ritt durch die Wildnis war ihm in Fleisch und Blut übergegangen.
Wer wohl diesmal am längsten zu Fuß gehen würde? Patrick, Christina? Irgendwann würden sie alle aufs Pferd klettern, dessen war er sich sicher. Einen Marsch von mehreren Stunden hielt niemand von der Gruppe durch.
Die Fahrt dauerte wirklich nur etwas mehr als eine Stunde, als sich vor ihnen eine kleine Holzhütte mit einem Nebengebäude auftat. Man konnte das Anwesen nicht als Ranch bezeichnen, dazu war es zu klein, vielmehr eine Kaschemme mit Stall, oder Stall mit Kaschemme. Das Haus war im Blockhausstil errichtet, aber vermutlich uralt. Überall zeigten sich Zeichen der Jahre, die dieses Haus schon hier stehen musste. Die verwitterte Färbung gab ihm noch zusätzlich den Anstrich eines wüsten Schuppens. Das Ambiente war urig, irgendwie eins mit der Wildnis. Kanada eben. Das Land der Holzblockhäuser.
Vor dem Haus hatte man sechs gesattelte Pferde angebunden, die alle ruhig warteten. Irgendjemand war damit beschäftigt, die Sättel zu überprüfen, Hufe zu kontrollieren und den letzten Rest Dreck aus Mähne und Schweif zu holen. Jasmin hatte ein flaues Gefühl im Magen. Pferde. Seit Whispers Tod hatte sie die Nähe zu Pferden gemieden, sie lediglich von Weitem betrachtet. Für sie gab es keine Pferde mehr. Zumindest keine Echten. Pferde, die ihr in Träumen erschienen, oder die sie auf Papier malte, zählten nicht dazu. Das waren nur Gedanken, nichts Greifbares, nichts Echtes. Aber das hier war echt und schon seit geraumer Zeit suchte sie einen Ausweg aus der Situation, die unweigerlich kommen würde. Bei dem Anblick der Tiere begann sich ihr Herz zu verkrampfen. Sie spürte erbitterten, inneren Widerstand und wusste, dass man sie zwingen würde, da … niemand ihre Geschichte kannte. Niemand ahnte von dem großen Loch, von dem Schmerz, von ihrem Entschluss, nie wieder …
„So, aussteigen bitte!“
Kinsky sprang mit Schwung aus dem Fahrzeug, knallte die Tür zu und riss die hintere auf.
„Darf ich bitten!“, erklärte er höflich und wartete, bis die Vier mit einem sehr vorsichtigen und verhaltenen Ausdruck im Gesicht, ausgestiegen waren. Jasmin zögerte, warf einen verzweifelten Blick auf die Pferde, auf die Sättel, dachte an das bevorstehende Ereignis und suchte automatisch die Gegend nach einem möglichen Fluchtweg ab.
„Whisper!“ , hörte sie sich in Gedanken rufen. „Ich kann kein anderes Pferd mehr reiten, ich kann es nicht.“
Da! Der Pick Up. Es war jener Pick Up, der sie vom Flughafen hierher gebracht hatte. Doch dort zwischen den Pferden war nicht Jaro Singing Bird zu sehen, sondern ein anderer, jünger, mit ebenso langen, schwarzen Haaren. Er zog bei einem Grauschimmel den Gurt nach, gab den Steigbügel nach unten, um dem Tier beim Vorbeigehen nochmal über die Hinterhand zu streichen. Jasmin beobachtete, wie er Kinsky grüßte und jedem der Kids die Hand gab. Zeit für sie auszusteigen, um nicht wieder die gesamte Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Schnell zog sie sich ihre Kapuze tiefer ins Gesicht und erkannte Stefan durch die Windschutzscheibe, wie er sich dem Fahrzeug näherte. Natürlich. Alle waren bereits draußen, beäugten mittlerweile vorsichtig ihre Transportmittel der nächsten paar Stunden, nur sie klebte einmal mehr im Wagen, versteckte sich, wodurch man sich mehr Gedanken über sie machte, als notwendig war. Ach, konnte man sie nicht in Ruhe lassen und sie nicht mit Dingen wie Reiten quälen?
Stefan blieb kurz stehen, als er bemerkte, wie sie die Autotür weiter aufschob und ihre Beine auf den Boden gleiten ließ. Entschloss sich aber dann doch, zu ihr zu gehen, sie nicht allein zu lassen.
„He, Jasmin, alles in Ordnung“, fragte er, während er verhinderte, dass sie die Tür zuschlug. Sie hätte definitiv zu viel Schwung gehabt.
Jasmin reagierte nicht auf seine
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